Jan Fabel 01 - Blutadler
Wikingern als Geisel genommen wurde. Da das Lösegeld ausblieb, opferte man ihn Odin als Blutadler. Es gibt eine Reihe weiterer dokumentierter Ereignisse.«
Er verhielt auf einer anderen Seite. »Dies ist der Bericht über einen Bischof auf einer der schottischen Inseln.«
»Und unser Mörder eifert diesen Fällen nach?« Fabels Stimme war immer noch voller Unglauben.
»O ja. Ich habe einige der Details in der Zeitung gelesen. Mir war klar, dass Sie versucht haben, so viele Einzelheiten wie möglich geheim zu halten, aber aus dem, was über das Gemetzel geschrieben wurde, konnte ich mir den Rest zusammenreimen.«
»Ich kann's nicht glauben. Grauenhaft.«
»Für uns wohl«, meinte Dorn. »Aber für den Mörder ist es ehrenvoll. Ein Kreuzzug. Er glaubt, den alten Göttern zu dienen. Damit hat er die höchste moralische Autorität auf seiner Seite. Er ist ein Bekehrer, ein Missionar, der Deutschland zu seinem wahren Glauben zurückführen will.« Dorn legte das Buch nieder. »Sie haben es mit den finstersten Kräften zu tun, die man sich vorstellen kann, Jan. Dieser Mörder ist ein wahrer Gläubiger. Er glaubt an etwas Apokalyptisches, und das auf eine Art, die der christliche Verstand nicht nachvollziehen kann. Auch die Wikinger hatten ihren Jüngsten Tag. Ragnarok. Aber die biblische Apokalypse verblasst im Vergleich zu Ragnarok. Das ist die Zeit, in der Odin und die Asen in die Schlacht gegen Loki und die Vanen ziehen. Eine Zeit voller Feuer und Blut und Eis, in der Himmel und Erde und alle Lebewesen vergehen. Dieser Darbieter des ›Blutadler‹-Opfers glaubt an all das. Seine Mission ist es, dafür zu sorgen, dass der Himmel einstürzt und sich die Meere mit Blut füllen.«
Fabel hielt die Zeitung schlaff in den Händen und richtete den Blick wie blind auf die Schlagzeile. Seine Gedanken überschlugen sich. »Wie können Sie sich dessen so sicher sein? Wir haben eine Kriminalpsychologin, die Profile herstellt ...«
»Ich bin kein Psychologe, da haben Sie Recht.« Dorns Stimme ließ so etwas wie Zorn erkennen. »Aber ich habe einen großen Teil der letzten zwanzig Jahre mit dem Versuch verbracht, Gemüter wie das dieses Wahnsinnigen zu verstehen. Zu begreifen, was einen Menschen dazu treibt, andere zu jagen, zu foltern und zu töten ...« Dorn verstummte. In seinen Augen stand aufrichtiger Schmerz.
Fabel war immer noch benommen und saß bewegungslos da. Als er schließlich sprach, schien er sich genauso an sich selbst wie an Dorn zu wenden. »Ich kann's einfach nicht begreifen. Er lebt also eine grässliche Fantasie aus, weil er meint, eine Mission erfüllen zu müssen. Vorausgesetzt, Sie haben Recht.«
»Was ich Ihnen geschildert habe, ist Teil der historischen Überlieferung. Ob es sich wirklich so ereignete oder ob es von den Chronisten erfunden wurde, um die Wikinger zu verteufeln, spielt keine Rolle. Die Überlieferung existiert. Und Ihr Mörder glaubt daran.«
»Und wenn es für ihn eine Mission ist«, fuhr Fabel fort, »dann wird er immer weiter morden. Bis wir ihn daran hindern.«
Aus irgendeinem Grund wollte Fabel nicht vom Besucherparkplatz vor der Vollzugsanstalt Vierlande aus anrufen. Daher fuhr er zum Neuengammer Hausdeich, parkte und kletterte den steilen Wall des Deiches hinauf. Von dort aus konnte er das KZ Neuengamme mit den symmetrisch angeordneten Blocks sehen. Die meisten Häftlinge waren Frauen gewesen. Man hatte die Insassen von Neuengamme und seinen Satellitenlagern als Sklavenarbeiter eingesetzt, um Notunterkünfte für die ausgebombten Bewohner von Hamburg bauen zu lassen. Als der zehnjährige Fabel mit seinem Vater hierher gereist war, hatte er eine neue Formulierung kennen gelernt: »Vernichtung durch Arbeit.«
Die Häftlinge wurden zu Tode geschunden.
Er setzte sich ins Gras und beobachtete, wie die leere Sonne über der flachen Landschaft und dem Lager mit Wolkenschatten spielte. Er konnte gerade noch das Mahnmal erkennen, vor dem sich die Skulptur »Der sterbende Häftling« befindet: eine abgemagerte Gestalt, die mit verdrehten Gliedern auf den Pflastersteinen liegt.
Er schaute hinunter zu dem Ort, an dem Frauen im Namen einer krankhaften Vorstellung von deutscher Identität ermordet worden waren. Dabei dachte er an Dorns Behauptung, dass all das einem Menschen mit einem pervertierten Geschichts-, Volks- und Glaubensbewusstsein als Rechtfertigung diente, seine niedrigsten Instinkte und seinen irren Blutdurst zu befriedigen.
Fabel brauchte Zeit, um seine
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