Jan Fabel 01 - Blutadler
einen Körper chirurgisch zu öffnen, braucht man gewöhnlich eine Brustbeinsäge und einen mechanischen Rippenspreizer. Dieser Mann dagegen schlitzt sein Opfer mit erstaunlicher Präzision auf und bricht die Rippen dann auseinander. Er ist wirklich ungeheuer stark.«
Maria betrat das Zimmer und winkte Fabel zu. »Chef?«
Er folgte ihr hinaus in den Wohnbereich. Dort hielt sich Holger Brauner mit seinem Team auf. »Sieh dir das an«, sagte er zu Fabel und deutete mit seiner behandschuhten Hand auf den Kaffeetisch. »Was fällt dir auf?«
Fabel betrachtete das große Rechteck aus hellem Holz. Es wirkte massiv und teuer. Er zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts. Das ist ein einfacher Kaffeetisch,«
»Genau«, sagte Brauner. »Keine Ziergegenstände, keine Aschenbecher, keine Keramik, keine Bücher.« Er hob eine der leistungsstarken Taschenlampen des Sicherungsteams. Sie überflutete die Tischplatte mit einem kalten, weißen, bleichenden Licht. »Schau mal.« Brauner beugte sich vor und zeichnete ein Quadrat auf die Tischplatte. »Dort ist etwas gewesen. Und hier.« Sein Finger beschrieb einen Kreis auf der anderen Seite des Tisches. »Und hier auch.« Er knipste die Lampe aus und drehte sich zum Fenster, das hinter geschlossenen Vorhängen verborgen war. »Sind diese Fenster nicht herrlich? Ich habe es mit einem Kompass nachgeprüft: Dieses Zimmer zeigt so genau nach Süden, wie es nur möglich ist. Es wird vom besten Tageslicht durchflutet, und das schafft einen hellen Wohnbereich.«
»Willst du den Beruf wechseln und Immobilienmakler werden, Holger?«, fragte Fabel.
Brauner lachte. »Die Bezahlung wäre erheblich besser, das steht fest. Nein, ich wollte nur darauf hinaus, dass Licht Möbelstücke aus Massivholz nachdunkeln lässt. An diesen etwas helleren Stellen hatte sie Bücher oder Ziergegenstände auf dem Kaffeetisch liegen. Objekte, die fast immer dort waren ...«
»Jetzt aber nicht.«
»Genau. Und ich glaube nicht, dass unser Täter sie weggeräumt hat.« Brauner trat an den steinernen Sockel, der den Gasfeuerkamin umgab. Er hob drei Bücher auf, die dort aufeinander gestapelt waren, und legte sie auf den Tisch. Das untere passte in die etwas hellere Fläche, auf die er hingewiesen hatte. Von einem hohen Tisch hinter Fabel nahm er eine kreisförmige zeitgenössische Keramik. Auch sie entsprach einer hellen Kontur auf dem Tisch. »Unser Mann ist so gründlich, dass er absolut sicher sein will, alles so zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hat. Ich nehme an, dass Angelika Blüm diesen Tisch abräumte, um etwas darauf auszubreiten. Papiere oder etwas Ähnliches. Was es auch war, der Mörder hat es mitgenommen. Und er wusste nicht, was zuvor auf dem Tisch gestanden hatte.«
»Willst du sagen, dass er Gegenstände als Trophäen stiehlt?«
»Nein, Jan.« Brauners Stimme war plötzlich fester geworden. »Ich glaube nicht, dass dieser Mann ein beliebiger psychopathischer Serienmörder ist. Die meisten Psychopathen, die Serienverbrechen begehen, nehmen Trophäen mit. Alles - von einem persönlichen Gegenstand bis hin zu einem inneren Organ. Die Trophäen dieses Mannes sind ausschließlich dokumentarischer Art. Du hattest gefragt, ob wir ein Tagebuch oder einen Terminkalender in der Wohnung des zweiten Opfers gefunden hätten, erinnerst du dich? Und was überhaupt nicht zu der Situation zu passen scheint: Warum hat er sämtliche Dateien auf ihrem Computer gelöscht? Sie war Journalistin, nicht wahr?« Fabel nickte. »Freiberuflerin, oder? Und ihr Arbeitszimmer war nebenan?«
»Scheint so«, sagte Fabel.
»Dann schlage ich dir vor, ihre Unterlagen durchzugehen. Ich vermute, dass auch dort Dinge fehlen.«
Fabel schaute von Brauner hinüber zu Maria und dann zu Werner, der das Zimmer betreten und den Hauptteil von Brauners Theorie mitbekommen hatte. »Willst du behaupten, dass es hier ein uns verborgenes sachliches Motiv gibt? Dieser Kerl ist doch mit Sicherheit ein Wahnsinniger.«
Brauner hob die Schultern. »Die Entscheidung muss eure Kriminalpsychologin treffen, aber ich bin auch der Meinung, dass der Mörder nicht ganz dicht ist. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass er ein Serientäter sein muss. Du hast von Iwan dem Schrecklichen gehört?«
»Natürlich«, sagte Fabel.
»Iwan der Schreckliche vereinigte Russland. Er war der Vater der Nation und machte eine lockere Ansammlung von kriegerischen Fürstentümern zu einem zusammenhängenden Staat. Das war sein Motiv. Aber er war nicht nur Monarch
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