Jan Fabel 01 - Blutadler
Halt, um Angelika Blüms Wohnungsschlüssel abzuholen. Er wusste nicht, was er dort zu finden erwartete, aber er verspürte das Bedürfnis, von ihren Dingen umgeben zu sein und ihr Leben auf sich einwirken zu lassen. Zumindest würde er dort genauso gut nachdenken können wie anderswo.
Es war Viertel nach drei, als er vor Angelika Blüms ehemaligem Wohngebäude anhielt. Fabel parkte ungefähr dort, wo der Freund der Nachbarin gestanden hatte. Die Lichter in der Eingangshalle brannten immer noch hell, und jeder, der sich den Glastüren näherte, würde deutlich zu sehen sein. Aber aus dieser Distanz konnte eine Beschreibung nur so allgemein sein wie die der Frau. Ein großer, gut gekleideter blonder Mann mit breiten Schultern. Doch war er der Mörder?
Fabel nahm den Lift in die dritte Etage. Er wartete einen Moment, bevor er die Tür öffnete, und starrte sie an, als könne er durch das Holz in die Dunkelheit der Wohnung blicken. Er dachte an das letzte Mal, als er die Tür aufgeschlossen und ein Tor zur Hölle geöffnet hatte. Damals war ein weiteres Bild eines grotesken Todes in sein Hirn eingebrannt worden. Er schüttelte solche Gedanken ab und drehte den Schlüssel um. Nachdem er die Wandlampen im Flur angeknipst hatte, ging er zögernd zu Angelika Blüms Arbeitszimmer. Wiederum musste er sich zusammenreißen, bevor er das Licht einschaltete. Auch diesmal enthüllte die plötzliche Beleuchtung eine unerwartete Szene, doch nicht eine des Entsetzens, sondern der Überraschung. Das Zimmer war säuberlich leer geräumt worden. Jemand hatte alle Schubladen aus dem Schreibtisch und den Schränken entfernt; die Bücher und Ordner von den Regalen an der Wand genommen und die Möbel umgedreht, damit die Unterseite überprüft werden konnte. Die Durchsuchung war zu systematisch gewesen, als dass man von einem Chaos hätte sprechen können. Fabel wusste, dass Brauners Team das Zimmer nicht in diesem Zustand verlassen hatte. Jemand anders musste hier gewesen sein. Der Gedanke war nur eine Millisekunde lang aufgeblitzt, als sich Fabels Nackenhaare sträubten. Jemand anders war hier. Er wurde zur Statue und lauschte der Stille der Wohnung so intensiv, dass sich das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Geräusch des Metalls auf dem steifen Leder seines Halfters verstärkten, während er die Walther zog. Da sein Rücken der Tür des Arbeitszimmers zugewandt war, fühlte er sich gefährdet. Er wirbelte geräuschlos herum und schob sich zurück in den Flur. Stille. Eine Minute lang stand er regungslos da und strengte sich an, um Geräusche aus den anderen Zimmern zu hören. Immer noch nichts. Die Spannung wich, doch nur ein wenig, aus seinem Körper, und er bewegte sich leise den Flur entlang. Den Rücken an die Wand gepresst, die Pistole in der rechten Hand erhoben, stieß er die Schlafzimmertür so weit wie möglich auf. Er trat in den Türrahmen und musterte das Zimmer am Visier seiner Waffe entlang. Dann tastete er nach dem Lichtschalter. Das Zimmer war leer. Fabel lachte verhalten: Wie albern. Er ließ die Pistole an seiner Seite herunterhängen und drehte sich wieder zum Flur um.
Sein nächstes Gefühl war Verblüffung. Wie hatte sich der Mann so leise und rasch bewegen können? Er musste im Wohnzimmer gewesen sein und abgewartet haben, um zuzuschlagen. Fabels Waffenarm schnellte hoch, aber sein Arm verhielt jäh, und er blickte ungläubig nach unten. Sein Angreifer hatte einen unerbittlichen Griff, und Fabel schien es, dass sein Handgelenk zermalmt wurde. Der Druck öffnete seine Hand, und die Walther fiel klappernd auf den Holzfußboden. Der Mann stand nun dicht vor ihm, und Fabel versuchte, seine andere Faust hochzureißen, doch der Angreifer packte seine Kehle mit der freien Hand. Fabel, dessen Wahrnehmung durch den Adrenalinschub beschleunigt wurde, spürte, dass sein Atemweg nicht blockiert war, doch dass der Mann knapp unter dem Kinn einen heftigen Druck auf seinen Hals ausübte. Er wollte einen Schrei ausstoßen, merkte jedoch, dass er stumm war. Während die Welt um ihn herum in Schwärze versank, schoss Fabel die Frage durch den Kopf, ob er nun sterben würde, und er blickte furchtsam und hilflos in die kalten, glitzernden grünen Augen des Mannes, den er nach dem Mord an Tina Kramer am Tatort gesehen hatte.
Hamburg-Uhlenhorst,
Dienstag, den 17. Juni, 5.20 Uhr
Das Erste, was Fabel wahrnahm, war Schmerz: ein Schmerz, der jegliches Kopfweh und jeden Katzenjammer übertraf - eine
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