Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
weiter zu den anderen Fotos aus dem Naturpark Harburger Berge und der Aufnahme von Martha Schmidts Leiche am Blankeneser Strand. Nach einem fast endlosen Schweigen drehte Fabel sich zum Team um.
»Der Mörder teilt uns etwas mit«, sagte er schließlich. »Ich konnte es zuerst nicht herauskriegen, aber dann halfen mir die Wassertürme weiter. Er verbindet die Morde miteinander, und nicht nur durch die Motive aus den Grimm’schen Märchen. Er lässt uns wissen, was er als Nächstes tun wird… oder wenigstens macht er Andeutungen.« Fabel trat vor die Bilder von Martha Schmidt und schlug mit der Hand an ein Foto des toten Mädchens. »Wir haben immer vermutet, dass er Paula Ehlers ermordet hat. Nun bin ich davon überzeugt. Deshalb hat er die Wechselbalg-Geschichte für Martha Schmidt verwendet. Er hat Martha ausgewählt, weil sie so viel Ähnlichkeit mit Paula hatte, und verband ihren Tod mit dem Grimm’schen Märchen vom Wechselbalg… um uns zu zeigen, dass es eine Leiche gab, die wir noch nicht gefunden haben. Er benutzte Marthas Gesicht, um uns mitzuteilen, dass er Paula getötet hat.«
Fabel legte die Hand auf ein zweites Bild: eine Panoramaaufnahme des Elbstrandes, an dem Martha gefunden worden war. »Aber er hat bei seinen Geständnissen nicht nur zurückgeblickt, sondern auch nach vorn.« Fabel wies auf den Hintergrund des Bildes, wo sich die Terrassen von Blankenese steil vom Strand erhoben. Über den Bäumen und dem Gebüsch ragte der Teil eines Gebäudes hervor. »Das ist der Swimmingpool-Anbau von Laura von Klosterstadts Villa. Er hatte sich Laura bereits als Opfer ausgewählt und Marthas Leiche in Sichtweite von Lauras Haus hingelegt. Laura war schon sein Dornröschen, durch ihren Reichtum und ihre gesellschaftliche Stellung abgetrennt von ›unterirdischen‹ Menschen wie der armen Martha.« Er trat hinüber zu dem Abschnitt der Tafel mit den Bildern zum Klosterstadt-Mord. »Und hier haben wir ein Opfer, das unter einem Wahrzeichen aus zwei Grimm’schen Märchen, dem Turm, in Pose gelegt ist. Hier vermischt er zwar seine Metaphern, aber auf beherrschte Art. Das Planetarium im Winterhuder Stadtpark steht gleichzeitig für Rapunzels Turm und für Dornröschens Schloss.« Er näherte sich der Nahaufnahme von Laura von Klosterstadts Haar mit der herausgeschnittenen Locke. »Und dann legt er ihr Haar in die Hände seines nächsten Opfers und drückt dessen Augen aus, damit die Beziehung zum Märchen von Rapunzel hergestellt wird.«
»Was ist mit dem Doppelmord im Naturpark Harburger Berge? Wie passt der ins Bild?«, fragte Anna.
Fabel rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es könnte sein,dass sich die Verbindung auf die Gegend beschränkt. Zwei Morde, ein Ort; zwei Gestalten, eine Geschichte. Das Märchen, Hänsel und Gretel, liefert die Verbindung. Aber daran glaube ich nicht. Am Anfang dachte ich, dass die Morde im Naturpark nichts mit den anderen zu tun hatten, sondern durch Olsens sexuelle Eifersucht ausgelöst worden waren. Aber das stimmt auch nicht. Ich meine inzwischen, dass die Morde im Naturpark mit einem oder mehreren weiteren Morden in Verbindung stehen, aber nicht mit denen, die bisher geschehen sind. Es gibt ein Bindeglied zu einem Mord, der noch begangen werden muss, und ich glaube, dass wir dann einen Querverweis – eine weitere Anspielung auf ein Märchen – zu einem oder mehreren der uns schon bekannten Morde erhalten werden. Und ich habe das Gefühl, dass diese Verbindung etwas mit den fehlenden Augen zu tun hat.«
Nach der Besprechung saß Fabel allein in seinem Büro. Das einzige Licht stammte von seiner Schreibtischlampe, die eine helle Scheibe auf die Tischplatte warf. In diesen Lichtkreis legte Fabel den Skizzenblock, in den er die Details der Schautafel sowie seine eigenen Kommentare eingetragen hatte.
Fabels gesamtes Bewusstsein richtete sich auf diese kleine, helle Fläche. Er ergänzte den Inhalt des Skizzenblocks um die Einzelheiten des neuesten Mordes. Sie würden in den kommenden Tagen mehr über das letzte Opfer erfahren, doch vorläufig wussten sie, dass Bernd Ungerer ein zweiundvierzigjähriger Vertreter war und für ein in Frankfurt ansässiges Unternehmen Gastronomiegeräte vertrieb. Anscheinend war Ungerer der einzige für Hamburg und Norddeutschland zuständige Vertreter der Firma. Er war verheiratet, hatte drei Kinder und wohnte in Ottensen. Fabel starrte auf die nüchternen Tatsachen, die er niedergeschrieben hatte. Was war das für eine Welt, in der ein
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