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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Vertreter mittleren Alters durch einen Stich ins Herz endete, wonach ihm die Augen aus dem Kopf gerissen wurden?
    Fabel konzentrierte sich auf die weiße Seite voller Anmerkungen in schwarzem Filzstift und roter Filzstiftlinien, die Namen, Orte und Kommentare miteinander verbanden. Er begann, die seltsamen Formeln der Ermittlung niederzuschreiben: Paula Ehlers + Martha Schmidt = Der Wechselbalg; Martha Schmidt »unten platziert« + Laura von Klosterstadt »oben platziert« = Der Wechselbalg/Dornröschen; Grünn + Markus Schiller = Hänsel und Gretel; Bernd Ungerer + Laura von Klosterstadt = Rapunzel. Mindestens eine Gleichung fehlte.
    Er starrte auf die Seite, als wolle er ihr die Lösung abringen. Dann schrieb er: Grünn/Schiller + Bernd Ungerer ? = ?. Er strich die Zeile durch und notierte: Grünn/Schiller + ? = ?; Ungerer + ? = ?. Mehr wollte die Seite Fabels hartnäckigem Blick zum Trotz nicht preisgeben. Er spürte, wie sich Besorgnis in seinem Magen zusammenballte: Die noch fehlenden Stücke würden durch weitere Morde geliefert werden. Irgendjemand würde mit Angst, Schmerz und mit dem Leben für Fabels Unfähigkeit, das Gesamtbild zu sehen, bezahlen müssen.
    Olsen. Fendrich. Weiss. Gab es hier noch eine andere Gleichung? Irrte sich Fabel mit seiner Annahme, dass es sich um einen einzelnen Mörder handelte? Hatte er es mit Olsen plus Fendrich, Weiss oder einem anderen zu tun? Er öffnete seine Schreibtischschublade und holte ein Exemplar von Weiss’ Buch hervor. Er hatte die Märchenstraße bereits von Anfang bis Ende gelesen, aber nun hatte er ein spezifisches Thema im Visier. Eines der Kapitel hieß »Rapunzel«. Wiederum wurde die Erzählung mit der Stimme des fiktiven Jacob Grimm wiedergegeben.
    In Rapunzel verbirgt sich, wie in jeder dieser Geschichten, eine Darstellung des ursprünglichen Guten und Bösen; ein Verständnis der Kräfte der Schöpfung und des Lebens; der Zerstörung und des Todes. Ich habe in diesen alten Sagen und Erzählungen eine solche Gemeinsamkeit der Themen gefunden, dass sich die Vermutung anbietet, ihre Wurzeln lägen nicht einfach in unserer nicht schriftlich festgehaltenen heidnischen Vergangenheit, sondern in den frühesten Ausdrucksformen jener ursprünglichsten Kraft. Mehr noch, einige der Geschichten müssen tief aus der frühen Gemeinschaft des Menschen herrühren, als unsere Zahl auf der Erde noch gering war. Wie sonst lässt sich erklären, dass das Märchen von Aschenputtel in fast identischer Form nicht nur in ganz Europa, sondern auch in China existiert?
    Von diesen ursprünglichen Kräften erhält die Natur, wie ich entdeckt habe, in ihrer großzügigsten und zerstörerischsten Form besonders häufig menschliche Gestalt. Die Mutter. Die mütterlichen und die natürlichen Kräfte werden sehr oft als parallele Elemente gesehen, und in den alten Volkssagen und -märchen verkörpert die Mutter beide. Die Natur spendet Leben, nährt und unterstützt, aber sie ist auch zu Wut und Grausamkeit fähig. Diese Dichotomie des Wesens der Natur wird in den Geschichten durch die doppelte (und manchmal dreifache, wenn man das Motiv der Großmutter mitrechnet) Darstellung der Mütterlichkeit überwunden.
    Es gibt das Bild der Mutter selbst, die gemeinhin Herd und Heim und alles Gute und Gesunde repräsentiert. Sie bietet Sicherheit und Schutz, sie nährt und leistet Beistand, sie spendet Leben. Das Motiv der Stiefmutter dagegen wird oft benutzt, um die Verneinung normaler mütterlicher Instinkte auszudrücken. Die Stiefmutter ist es, die ihren Ehemann überredet, Hänsel und Gretel im Wald auszusetzen; die Stiefmutter ist es, die, von wahnsinnigem Neid und von Eitelkeit getrieben, den Tod Schneewittchens anstrebt. In Gestalt der bösen Zauberin ist es die Stiefmutter, die Rapunzel entführt und peinigt.
    In der Stadt Lübeck wohnte eine schöne und vermögende Witwe, die ich Frau X nennen werde. Frau X hatte selbst kein Kind geboren, wurde jedoch zum Vormund Imogens, der Tochter ihres verstorbenen Gatten aus einer früheren Ehe. Imogens Schönheit ließ sich in jeder Hinsicht mit der ihrer Stiefmutter vergleichen, und sie besaß ein Vermögen, das bei Frau X mit jedem Tag abnahm: Jugend. Ichmuss betonen, dass weder ich noch sonst jemand den geringsten Grund zu der Annahme hatte, Frau X sei neidisch auf Imogen oder ihr in irgendeiner Weise übel gesonnen. Im Gegenteil, sie schien ihr Mündel höchst fürsorglich und liebevoll zu behandeln, als wäre es ihr eigenes Kind. Aber das

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