Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
scheine nie weit von einem oder beiden der Brüder Grimm entfernt zu sein.«
»Ich hoffe, wir gleiten nicht ins Berufliche ab.« Susanne übertrieb ihren warnenden Tonfall.
»Das liegt daran, dass ich die Ingwäonen erwähnt habe, das ›Volk des Meeres‹, die Kinder von Ing. Plötzlich fiel mir ein, wo ich zum ersten Mal von ihnen gelesen hatte… in der Deutschen Mythologie von Jacob Grimm. Man braucht nur irgendwo an der Oberfläche der deutschen Geschichte oder Philologie zu kratzen, und schon stößt man auf eine Verbindung zu den Grimms.« Er machte eine entschuldigende Geste. »Entschuldige. Das ist im Grunde nichts Berufliches, sondern ich habe gerade mit Gerhard Weiss, dem Schriftsteller, geredet. Er meint, dass wir uns alle für einzigartig hielten, aber nur Variationen desselben Themas seien. Und deshalb hätten Fabeln und Märchen eine unveränderliche Resonanz und Bedeutung. Aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Grimm’schen Märchen so… so deutsch sind. Obwohl manche von ihnen Wurzeln und Parallelen außerhalb Deutschlands haben. Vielleicht ist es vergleichbar mit dem Gespür der Franzosen und Italiener für gutes Essen. Vielleicht haben wir einenInstinkt, der sich auf Mythen und Sagen richtet. Das Nibelungenlied, die Brüder Grimm, Wagner und all das.«
Susanne zuckte die Achseln, und sie schwiegen erneut. Auf dem breiten Streifen aus weißgoldenem Sand und Dünen kehrten sie zu dem Strandkorb zurück, in dem sie ihre Handtücher und Schuhe abgelegt hatten. Sie setzten sich in den Strandkorb, der ihnen Schutz vor dem Wind bot, und küssten einander.
»Tja«, sagte Susanne, »wenn du mich nicht zur wunderbaren Wasserwelt des Wellenparks oder zu den kulturellen Reichtümern des Teemuseums ausführen willst, dann sollten wir vielleicht mit deiner Mutter und Gabi zum Mittagessen in ein schönes Restaurant fahren.«
44.
Hamburg-Ottensen, Sonntag, den 18. April, 22.20 Uhr
Maria Klee lehnte sich mit dem Rücken an ihre Wohnungstür, als wolle sie die Schranke zwischen ihrer Privatsphäre und der Außenwelt verstärken. Das Essen war großartig und die Verabredung eine Katastrophe gewesen. Sie hatten sich zum Abendessen im Restaurant Eisenstein getroffen, einer stilvoll umgebauten früheren Schiffsschraubenfabrik. Es war eines von Marias Lieblingsrestaurants und, da es sich in Ottensen befand, günstig für sie gelegen. Ihr Partner hieß Oskar, ein Anwalt, den sie durch gegenseitige Freunde kennen gelernt hatte. Oskar war intelligent, aufmerksam, charmant und attraktiv, und es hätte kaum einen besseren Kandidaten für einen festen Freund geben können.
Aber wann immer Maria das Gefühl hatte, dass er in ihren persönlichen Bereich vordrang, war sie zurückgeschreckt. So war es jedes Mal gewesen, seit sie fast erstochen worden wäre.Bei jeder Verabredung, bei jedem Treffen mit einem Mann. Fabel, ihr Chef, ahnte nichts davon. Er durfte es nicht wissen, denn es bestand ein wirkliches Risiko, dass dies ihre Einsatzfähigkeit als Polizeibeamtin behinderte. Doch was immer ihr das Ungeheuer, das ihr das Messer in den Leib gejagt hatte, genommen haben mochte, es würde sie nicht auch noch ihrer Karriere berauben. Nun, da Werner Krankenurlaub hatte, um sich von Olsens Angriff zu erholen, war Maria Fabels einzige Stellvertreterin. Sie würde ihn nicht enttäuschen. Sie konnte ihn nicht enttäuschen.
Aber tief in ihrem Inneren brannte ein dunkles, unerbittliches Feuer der Furcht: Was würde im Ernstfall geschehen? Was würde geschehen, wenn sie wieder einem gefährlichen Straftäter gegenüberstand? Das war früher oder später unvermeidlich. Würde sie der Situation gewachsen sein?
Vorläufig kämpfte Maria bei jeder neuen Verabredung gegen die Panik an, die eine mögliche Intimität mit einem Mann in ihr aufkommen ließ. Oskar war höflich bis zuletzt gewesen, bis endlich der Zeitpunkt gekommen war, den Abend ohne allzu große Peinlichkeit zu beenden. Er hatte sie nach Hause gefahren, an der Tür ihres Wohnhauses abgesetzt und sich mit einem flüchtigen Kuss von ihr verabschiedet. Maria hatte ihm nicht angeboten, zu einem Kaffee hereinzukommen, und er hatte es offensichtlich auch nicht erwartet.
Maria streifte ihren Mantel ab und warf ihre Schlüssel in die Holzschüssel neben der Tür. Geistesabwesend ließ sie die Hand über das Schulterband ihres Kleides gleiten, bevor ihre Finger knapp unterhalb des Brustbeins über die Seide fuhren. Sie spürte nichts durch die feine Seide, aber
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