Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
erwiderte Grueber. Er ging um die Leiche herum und kniete sich neben sie. »Könnte eine Kugel oder ein einzelner Messerstich gewesen sein. Aber das, womit die Augen entfernt wurden, war nicht scharf. Ich vermute, dass der Mörder sie mit den Daumen herausgepresst hat. Wir haben es mit einem Mörder zu tun, der ›Handarbeit‹ liebt.« Er stand auf und drehte sich zu Maria um. »Das Opfer ist ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, männlich, wie wir sehen, einen Meter siebenundsiebzig groß und vielleicht fünfundsiebzig Kilo schwer. Um Nase und Lippen sind Kapillarrisse zu sehen, abgesehen von den Würgemalen am Hals. Das scheint also die Todesursache zu sein.«
»Die Sache mit den Augen… vor oder nach dem Tod?«
»Im Moment schwer zu sagen, aber der relative Blutmangel deutet auf einen Zeitpunkt nach oder kurz vor dem Tod hin. Allerdings wäre dabei ohnehin nicht viel Blut geflossen.«
Anna Wolff trat zusammen mit Henk Hermann unter den zur Abdeckung der Leiche aufgespannten Baldachin. Sie zuckte beim Anblick des augenlosen Gesichts zusammen.
Hermann kniete neben der Leiche nieder. »Ich wette, die Analyse wird zeigen, dass dies der fehlende Teil von Laura von Klosterstadts Haar ist.« Er wandte sich an Grueber. »Darf ich die Hände berühren? Ich vermute, dass wir unter einer von ihnen eine Nachricht des Mörders finden werden.«
»Lassen Sie mich das machen«, erwiderte Grueber. »Wie gesagt, ich glaube, dass unser Mörder ›Handarbeit‹ liebt. Vielleicht hat sich das Opfer gewehrt. Vielleicht hat es Hautzellen des Mörders unter den Fingernägeln.« Behutsam hob er eine Hand, schob sie ein wenig zur Seite, nahm die Haarsträhne und ließ sie in eine Spurensicherungstüte gleiten. Er hob die zweite Hand. Darunter lag ein kleiner Zettel aus gelbem Notizpapier.
»Da ist er«, rief Hermann. Grueber hob den Zettel mit einer Pinzette auf und legte ihn ebenfalls in einen durchsichtigen Plastikbeutel. Er reichte ihn Hermann, der den Beutel ins Scheinwerferlicht hielt und den Zettel musterte. »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter.« Wieder war die Schrift klein, straff und mit der gleichen roten Tinte geschrieben. »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter«, las Hermann laut vor.
»Prächtig«, sagte Maria. »Nun hat er also Nummer vier auf dem Gewissen.«
»Nummer fünf«, meinte Anna, »wenn wir Paula Ehlers mitrechnen.«
Grueber untersuchte die Hemdbrust, öffnete vorsichtig einen Knopf und betrachtete die Wunde darunter. Er schüttelte den Kopf. »Komisch… Er ist nicht erschossen worden. Sieht nach einer einzelnen Stichwunde aus. Warum hat er sich nicht verteidigt?«
»Und was soll das mit den Augen?«, fragte Henk Hermann. »Sieht so aus, als wenn der Knabe jetzt Trophäen sammelt.«
»Nein«, widersprach Maria und schaute zum Wasserturm empor. »Er hat sie nicht als Trophäen genommen. Dies« – sie deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf die Leiche – »soll der Prinz sein. In dem Märchen von Rapunzel wird die Prinzessin von ihrer Stiefmutter, der Zauberin, in einen Turm gesperrt. Als sie herausfindet, dass Rapunzel und der Prinz sich heimlich treffen, stellt die Zauberin dem Prinzen eine Falle. Er springt vom Turm und wird von Dornen geblendet.«
Anna und Henk setzten eine beeindruckte Miene auf.
Maria lächelte bitter. »Fabel ist nicht der Einzige, der Märchen liest.«
Zu dem Zeitpunkt, als Fabel das Präsidium erreichte, war die Identität des augenlosen Mannes im Sternenschanzenpark bereits festgestellt worden: Er hieß Bernd Ungerer, war Vertreter für Gastronomiegeräte und kam aus Ottensen. Man hatte die Fotos der Leiche und des Fundorts entwickelt und sie an die Schautafel gehängt. Fabel hatte Maria mit seinem Handy angerufen und sie gebeten, das gesamte Team zusammenzuholen, darunter Petra Maas, Hans Rödger und Kommissar Klatt von der Kripo Norderstedt.
Es war zwei Uhr morgens, als sich alle im Hauptbüro der Mordkommission versammelt hatten. Jeder der Anwesenden schien unter der Wirkung der gleichen Mischung aus Müdigkeit, Adrenalin und Kaffee zu stehen. Nur das neueste Teammitglied, Henk Hermann, hätte nicht frischer – oder eifriger – aussehen können.
Nachdem Maria alle bekannten Einzelheiten über das Opfer und die bisher vorliegenden Fakten vorgetragen hatte, musterte Fabel die Schautafel. Sein Blick schweifte zwischen dem Fundort der Leiche von Laura von Klosterstadt und den Bildern aus dem Sternschanzenpark hin und her, dann
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