Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Kellergeschoss hinunter. Dort fesselte ich sie straff, verabreichte ihr noch etwas mehr Laudanum und knebelte sie, damit sie nicht in meiner Abwesenheit, sollte sie wach genug werden, Passanten durch ihre Schreie alarmierte.
Dann schloss ich mich meinem Bruder zu einer prächtigen Mahlzeit aus frisch erlegtem Wildbret an. Ich gestattete mir einen Augenblick der Belustigung bei dem Gedanken, solches Fleisch zu genießen, da ich doch selbst gerade direkt von der Jagd gekommen war. Ich merkte jedoch, dass mich mein Sinnen über meine Jagdbeute männliche Erregung verspüren ließ, und ich verbannte den Gedanken aus meinem Geist.
In mein Quartier zurückgekehrt, stellte ich fest, dass meine schöne Rapunzel aus ihrem Schlummer erwacht war. Rapunzel oder Dornröschen? Die Misslichkeit war mir schon zuvor aufgefallen: Diese Erzählungen sind im Wesentlichen Variationen und keine gesonderten Geschichten. Bei beiden hatte mein Bruder darauf bestanden, die Darstellung ein wenig »gesitteter« zu machen, indem wir Dornröschen durch einen Kuss erwecken ließen. In dem Original, dass wir gefunden hatten, wird sie dagegen in ihrem hundertjährigen Schlaf von einem verheirateten König, keinem Prinzen, entdeckt, der mehrere Male Beischlaf mit ihr hat. Erst nachdem sie Zwillinge gebiert und einer bei dem Versuch zu säugen den Splitter aus ihrem Daumen entfernt, erwacht sie aus ihrem Zauberschlaf.
Auch in dem Märchen von Rapunzel ist die junge Prinzessin in ihrem Turm nicht so keusch, wie spätere Versionen, darunter die von uns aufgezeichnete, vermuten lassen. Wiederum wird ein Schleier darüber gelegt, dass Rapunzel nach ihren Begegnungen mit demPrinzen zwei Kinder zur Welt bringt. Das spiegelt die Moral einer früheren Zeit wider, als christliche Werte einen geringeren oder überhaupt keinen Einfluss hatten. Sowohl Rapunzel als auch Dornröschen gebären in der ursprünglichen Fassung Kinder aus nichtehelichen Beziehungen…«
Fabel legte das Buch nieder. Er erinnerte sich an das, was Heinz Schnauber über Laura von Klosterstadts geheime Schwangerschaft und Abtreibung gesagt hatte. Wenn der Mörder dem Vorbild authentischer, ursprünglicher Versionen der Märchen oder dem Inhalt von Weiss’ Buch folgte, dann erhöhte Lauras Vorgeschichte ihre »Tauglichkeit« als Opfer. Aber es war ein sorgfältig gehütetes Geheimnis gewesen. Wenn der Mörder davon wusste, verfügte er über intime Kenntnisse der Familie von Klosterstadt. Oder er war der Vater. Fabel las weiter.
Zur wahrheitsgetreuen Nachahmung des Märchens war ich deshalb gezwungen, meine Rapunzel zu schänden, aber erst nachdem sie eingeschlafen war. Sie betrachtete mich mit flehenden Augen, die sie ungemein reizlos werden ließen. Als ich ihr den Knebel entfernte, bettelte sie um ihr Leben. Interessanterweise bat sie, obwohl eine Frau von Stand, nicht darum, ihre Tugend zu schonen. Diese hätte sie ohne Zögern aufgegeben, wäre ihr Überleben dadurch gesichert worden. Ich ließ sie erneut Laudanum trinken, und die Ruhe und Schönheit ihres Gesichts und ihrer Gestalt wurden wiederhergestellt.
Sobald ich ihre Kleidung entfernt hatte, wurde ich von der Schönheit ihres Körpers berauscht, und ich gebe zu, dass ich mich einige Male an ihrem Fleisch labte, während sie schlief. Dann legte ich sanft ein Seidenkissen auf ihr Gesicht. Es kam zu keinem erbitterten letzten Kampf ums Leben, und sie gab ihren Geist auf.
Wieder legte Fabel das Buch hin, diesmal um Laura von Klosterstadts Autopsiebericht hervorzuholen. Ihr Körper wies keinerlei Spuren sexueller Gewalt auf; vielmehr schien sie seit einiger Zeit enthaltsam gelebt zu haben. Er wandte sich wieder der Märchenstraße zu.
Am folgenden Abend kehrte ich in den Park zurück und legte meine Rapunzel in seine Mitte unter dem Zierturm. Der Mond schien hell und beleuchtete ihre Schönheit. Ich bürstete ihr glänzendes Haar aus, das im Mondlicht wie Weißgold schimmerte. Dort ließ ich sie, meine Rapunzel, zurück, damit andere sie finden und der alten Märchen gedenken konnten.
Ich hielt meine Nachschöpfung für vollständig und war höchst zufrieden damit. Es war eine große und willkommene Überraschung, als sich ein paar Tage später herausstellte, dass Frau X zum Gegenstand von Gerüchten und Mutmaßungen über ihre Rolle beim Tod ihrer Stieftochter geworden war. Der Verdacht – allerdings nicht von offizieller Seite – war so ausgeprägt, dass nicht nur ihr gesellschaftliches Ansehen in der Lübecker
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