Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
herbeizuholen.« Fabel hielt inne. Gerade hatte er Werner auffordern wollen, Paul Lindemann ebenfalls anzurufen. Die späte Stunde und die Gewohnheit hatten eine Sekunde lang die Tatsache verdrängt, dass Paul ein Jahr zuvor im Dienst gestorben war. »Und Anna soll Kontakt mit Henk Hermann aufnehmen.« Er schaltete das Handy aus.
So viele Tote. Wie hatte es geschehen können, dass er von so vielen Todesfällen umgeben war? Die Geschichtswissenschaft war sein Lieblingsfach gewesen, und er hatte sich zum Leben eines Historikers hingezogen gefühlt, als wäre dies der durch seine Gene vorgegebene Pfad. Aber Fabel glaubte nicht an das Schicksal, sondern an die grausame Unberechenbarkeit des Lebens. Denn in diesem Leben hatte eine zufällige Begegnung einer jungen Studentin, Fabels damaliger Freundin, mit irgendjemandem, der unter einer schweren Psychose litt, zu einer Tragödie geführt. Und dadurch war eine Folge unvorhergesehener Ereignisse in Gang gesetzt worden, die damit endete, dass Fabel eine Laufbahn in der Mordkommission einschlug, statt Historiker oder Archäologe oder Lehrer zu werden.
So viele Tote. Und nun war er einem weiteren Mörder dicht auf den Fersen.
Es war fast sechs Uhr, als sich alle in der Mordkommission versammelt hatten. Niemand beklagte sich darüber, aus dem Bett gerissen worden zu sein, doch alle hatten die trübe Miene von nur halb wachen Personen aufgesetzt. Ganz im Gegensatz zu Fabel. Seine Augen glänzten vor kalter Entschlossenheit. Er hatte den anderen den Rücken zugewandt und ließ seinen forschenden Blick über die Bilder an der Schautafel schweifen.
»Manchmal habe ich gedacht, dass wir diesen Burschennicht erwischen werden.« Fabels Stimme war ruhig und überlegt. »Dass wir mit mehreren Wochen heftiger Aktivität und einem Haufen Leichen rechnen mussten, bevor er wieder verschwand. Bis zu seiner nächsten Orgie.« Er wartete einen Herzschlag lang und wandte sich zu seinem Publikum um. »Wir haben einen sehr arbeitsreichen Tag vor uns, und an seinem Ende möchte ich den Mörder hinter Gittern haben.« Niemand sagte ein Wort, doch plötzlich sahen alle wacher aus. »Er ist schlau. Wahnsinnig… aber schlau«, fuhr Fabel fort. »Dies ist sein Lebenswerk, und er hat es bis ins kleinste Detail durchdacht. Alles, was er tut, ist von Bedeutung. Jede Einzelheit ist ein Bindeglied zu einer anderen. Aber eines ist uns entgangen.« Er schlug mit der offenen Handfläche auf das erste Bild. »Paula Ehlers… Das ist das Foto, das am Tag vor ihrem Verschwinden aufgenommen wurde. Was seht ihr?«
»Ein fröhliches Mädchen.« Werner starrte das Bild konzentriert an, als könne er ihm dadurch zusätzliche Informationen entlocken. »Ein fröhliches Mädchen auf ihrer Geburtstagsparty…«
»Nein.« Maria Klee trat dichter heran und musterte die Bilderserie, genau wie Fabel es getan hatte. »Nein… das ist es nicht…« Sie blickte Fabel fest in die Augen. »Der Geburtstagskuchen. Es ist der Geburtstagskuchen.« Fabel lächelte grimmig, schwieg jedoch und lud Maria dadurch ein, den Faden aufzunehmen. Sie ging an die Tafel und zeigte auf das zweite Foto.
»Martha Schmidt… das Mädchen, das am Blankeneser Strand gefunden wurde. Ihr Magen war leer, abgesehen von den Resten einer kargen Mahlzeit aus Roggenbrot.« Sie bewegte sich auf das nächste Bild zu, und ihre Stimme wurde fester. »Hanna Grünn und Markus Schiller… die auf einem Taschentuch verstreuten Brotkrümel. Und Schiller war Mitbesitzer einer Bäckerei.« Während Maria sprach, nickte Fabel zu Anna hinüber. »Setz dich mit der Haftanstalt Vierlande in Verbindung. Ich muss unbedingt mit Peter Olsen reden.«
Maria schritt zu dem nächsten Bild. »Laura von Klosterstadt?«
»Noch eine Geburtstagsparty«, antwortete Fabel. »Eine protzige, die ihr Agent Heinz Schnauber organisiert hatte. Die Speisen und Getränke wurden bestimmt geliefert. Schnauber sagte mir, er habe immer dafür sorgen wollen, dass Laura ihre Geburtstagsparty als persönliches Ereignis und nicht bloß als PR -Event empfand. Deshalb arrangierte er gern kleine Überraschungen für sie: Geschenke… und eine Geburtstagstorte. Wir müssen herausfinden, wer für das Catering zuständig war.«
»Bernd Ungerer.« Maria bewegte sich an der Schautafel entlang, als wäre sie allein im Zimmer. »Natürlich, Gastronomiegeräte. Bäckereiöfen… Und hier… Lina Ritter. Als Rotkäppchen mit einem frisch gebackenen Brotlaib in ihrem Korb.«
»Märchen«, sagte Fabel. »Wir
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