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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Mädchen blickte in seine Richtung. Er trat nicht zurück, sondern blieb reglos stehen. Sie spähte in die Dunkelheit, genau dorthin, wo er wartete. Aber die dumme Ziege konnte ihn nicht sehen. Sie würde ihn sehen – sehr bald.
    Das Licht von Autoscheinwerfern tastete über die Bäume hinweg, und er wich ein wenig zurück. Es war ein Mercedes-Coupé, das Auto von Markus Schiller. Der Mercedes hielt neben dem Golf an, Schiller ließ die Scheibe hinuntergleiten und machte eine entschuldigende Geste. Aus dem Versteck zwischen den Bäumen war zu sehen, wie Hanna aus dem Golf ausstieg, den Schlag zuknallte, schlecht gelaunt auf den Mercedes zumarschierte und sich auf den Beifahrersitz schob.
    Das war der richtige Zeitpunkt.

10.
    Krankenhaus Mariahilf, Hamburg-Heimfeld, Samstag, den 20. März, 10.20 Uhr
    Die helle Frühlingssonne, die schräg durch die große Fensterscheibe fiel, teilte das Krankenzimmer in deutlich voneinander abgehobene Bereiche aus Licht und Schatten. Der Sohn hatte die Jalousien hochgezogen, sodass die Sonne gnadenlos in das ungeschützte Gesicht seiner Mutter schien.
    »So, Mama, das ist besser, nicht wahr?« Er trat zurück an das Bett und rückte den Stuhl ganz nahe heran, bevor er sich hinsetzte. Dann beugte er sich vor zu seiner gewöhnlichen Haltung, die Hingabe und Fürsorglichkeit erkennen ließ. Mit einer scheinbar sanften und rücksichtsvollen Geste, hinter der sich jedoch eine böse Absicht verbarg, legte er ihr die Hand auf die Stirn, ließ die Finger unmerklich vom Haaransatz hinabgleiten und zog die schweren Lider der alten Frau hoch, sodass sich das grelle Licht der Sonne in ihre farblosen Augen brannte.
    »Gestern Abend bin ich wieder zum Spielen gefahren, Mama. Diesmal waren es zwei. Ich habe ihnen die Kehle durchgeschnitten. Ihm zuerst. Daraufhin hat sie um ihr Leben gebettelt. Sie hat gebettelt und gebettelt. Es war so komisch , Mama. Immer wieder rief sie: ›O nein, o nein…‹ Dann habe ich ihr das Messer ins Fleisch gestochen. Auch in die Kehle.Ich habe sie weit aufgeschlitzt, und da hat sie den Mund gehalten.« Der Mann lachte leise, und seine Finger glitten von ihrer Stirn und dem schwachen Winkel ihrer Wange über ihren dünnen, faltigen Hals. Er neigte den Kopf mit einem wehmütigen Ausdruck zur Seite. Dann zog er die Hand plötzlich zurück und lehnte sich nach hinten.
    »Weißt du noch, Mama, wie du mich früher bestraft hast? Als ich ein Junge war? Weißt du noch, wie du mich gezwungen hast, die Geschichten immer wieder aufzusagen? Und wie du mich mit deinem Spazierstock geschlagen hast, wenn ich auch nur ein einziges Wort falsch wiederholte? Mit dem Spazierstock, den du von unseren Wanderferien in Bayern zurückgebracht hattest? Weißt du noch, wie du einmal einen Schrecken bekamst, weil du mich so schwer verprügelt hattest, dass ich in Ohnmacht fiel? Du hast mir eingebläut, dass ich ein Sünder bin. Einen wertlosen Sünder hast du mich immer genannt, erinnerst du dich?« Er machte eine Pause, als erwarte er die Antwort, die sie ihm nicht mehr geben konnte, und fuhr dann fort: »Und immer wieder musste ich die Geschichten aufsagen. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, sie mir einzuprägen. Immer wieder habe ich sie gelesen, bis mir die Buchstaben vor Augen tanzten. Ich habe mich so sehr bemüht, kein einziges Wort zu vergessen oder an der falschen Stelle zu erwähnen. Aber trotzdem ist es immer wieder passiert, nicht? Damit hattest du einen Vorwand, mich zu schlagen.« Er seufzte, schaute auf den hellen Tag jenseits des Fensters und richtete den Blick dann wieder auf die alte Frau. »Bald, sehr bald wird es Zeit für dich, mit mir heimzukehren, Mutter.« Er stand auf, beugte sich vor und küsste ihr die Stirn. »Und ich habe den Spazierstock immer noch…«

11.
    Naturpark Harburger Berge, Sonntag, den 21. März, 9.15 Uhr
    Maria war einige Zeit vor Fabel am Schauplatz eingetroffen. Es war eher eine Lichtung als ein Parkplatz, und Fabel vermutete, dass der Ort zwei Zwecken diente: tagsüber als Ausgangspunkt für Wanderer, abends als diskreter Treffpunkt für unerlaubte Begegnungen. Er stellte seinen BMW neben einem der grün-weiß lackierten Streifenwagen ab und stieg aus. Es war ein luftiger Frühlingsmorgen, und der dichte Wald, der den Parkplatz umrahmte, schien sich nicht nur durch die Brise, sondern auch durch das Zwitschern von Vögeln zu bewegen.
    »In the midst of life…«, sagte er auf Englisch zu Maria, die auf ihn zukam, und deutete mit der Hand auf

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