Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
wissen?«
Anna zählte die wesentlichen Fakten über den Lehrer auf. Als sie fragte, ob seine Mutter noch bei ihm wohne, verzog Fendrich das Gesicht, als wäre ihm ein Stich versetzt worden.
»Meine Mutter ist tot«, sagte er und brach zum ersten Mal den Augenkontakt zu Anna ab. »Sie ist vor sechs Monaten gestorben.«
»Das tut mir Leid.« Fabel konnte sich in Fendrich hineinversetzen und dachte an den Schrecken, den die Krankheit seiner eigenen Mutter ihm gerade eingejagt hatte.
»Sie war seit langem krank.« Fendrich seufzte. »Ich lebe jetzt allein.«
»Sie haben die Schule nach Paulas Verschwinden gewechselt«, stellte Anna fest, um den Gesprächsfluss nicht abbrechen zu lassen. »Was war der Grund dafür?«
Fendrich stieß ein weiteres bitteres Lachen aus. »NachdemIhr Kollege – er hieß Klatt –, nachdem also Herr Klatt keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er mich für verdächtig hielt, entwickelten auch die anderen mir gegenüber ein Misstrauen. Eltern, Schüler, sogar meine Kollegen… Ich konnte den Argwohn an ihren Augen ablesen. Einige Male wurde ich sogar am Telefon bedroht. Also ließ ich mich versetzen.«
»Haben Sie nicht befürchtet, dass sich der Verdacht dadurch verstärken würde?«, fragte Anna freundlich lächelnd.
»Das war mir scheißegal. Ich hatte die Schnauze voll. Niemand war bereit, sich auch nur eine Sekunde lang vorzustellen, dass ich selbst zutiefst erschüttert war. Ich mochte Paula sehr gern, denn sie hatte ein enormes Potenzial. Niemand schien sich daran zu stören. Außer Ihrem Kollegen Klatt, dem es irgendwie gelang, die Sache…« Fendrich rang nach dem passenden Wort. »…anrüchig wirken zu lassen.«
»Sie waren Paulas Deutschlehrer, nicht wahr?«, fragte Anna. Fendrich nickte. »Sie sagen, das Mädchen hätte zu besonderen fachlichen Hoffnungen berechtigt… und Ihr Interesse hätte sich allein darauf beschränkt.«
Fendrich riss den Kopf trotzig zurück. »Das stimmt.«
»Aber keiner ihrer anderen Lehrer schien dies bemerkt zu haben, und ihre Schulzeugnisse zeigen nur durchschnittliche Leistungen in fast allen Fächern.«
»Das alles habe ich schon Gott weiß wie oft erklärt. Ich erkannte das Potenzial in ihr. Sie hatte eine natürliche Begabung für die deutsche Sprache. Das ist so wie mit der Musik. Man hat ein Ohr für die Sprache, oder man hat es nicht. Paula hatte ein gutes Ohr. Und sie konnte sich wunderbar ausdrücken, wenn es ihr in den Sinn kam.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die unaufgeräumte Tischplatte und musterte Anna mit ernstem Blick. »Paula hatte trotz ihrer dürftigen Leistungen die Fähigkeit, wirklich etwas zu vollbringen, aber sie war in Gefahr, zum Opfer des Systems, zum Niemand zu werden. Es stimmt, dass die anderen Lehrer das nicht wahrnahmen. Und dass auch ihre Eltern ihr Talent nicht sahen. Deshalb habe ich so viel Zeit darauf verwendet, ihr zu helfen. Es war meiner Ansicht nach eine reale Möglichkeit für sie, sich den begrenzten Erwartungen ihrer Eltern zu entziehen.«
Fendrich lehnte sich wieder zurück und hielt die Handflächen nach oben, als hätte er sein Plädoyer vor einem Gericht beendet. Dann ließ er die Hände schwer auf die Tischplatte fallen, als wäre seine Energie aufgebraucht. Fabel beobachtete ihn schweigend. Etwas an dem Ernst und dem fast leidenschaftlichen Ton, in dem Fendrich über Paula sprach, beunruhigte ihn.
Anna wechselte das Thema und kam auf die Details von Fendrichs Alibi vor Paulas Verschwinden zu sprechen. Seine Antworten waren genau die gleichen wie die, die er der Akte zufolge drei Jahre vorher gegeben hatte. Aber seine Geduld ließ unter Annas Befragung zunehmend nach.
»Ich dachte, es gehe um einen neuen Fall«, sagte er, als Anna geendet hatte. »Dabei haben Sie nur den alten Kram aufgewärmt. Ich dachte, Sie wollten sich nach einem anderen Mädchen erkundigen. Nach einem Mord.«
Fabel bedeutete Anna, ihm die Akte zu reichen. Er nahm ein großes Hochglanzfoto heraus, das an dem Ort, wo man die Tote entdeckt hatte, aufgenommen worden war. Er legte es direkt vor Fendrich hin und wandte die Augen nicht vom Gesicht des Lehrers ab, um seine Reaktion abzuschätzen. Und die Reaktion fiel heftig aus. Fendrich murmelte: »Oh, mein Gott…«, und schlug sich eine Hand vor den Mund. Dann erstarrte er, ließ das Bild jedoch nicht aus den Augen. Er beugte sich vor und schien jedes Pixel zu untersuchen. Schließlich entspannten sich seine Züge vor Erleichterung, und er blickte zu
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