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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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hatte nie verstanden, warum Renate ihm gewöhnlich auf diese Weise begegnete. Es war, als mache sie ihn für ihre Untreue verantwortlich, durch die ihre Ehe unwiderruflich zerstört worden war. Gabis Stimme dagegen war wie stets voller Frohsinn. Sie plauderten eine Weile über Fabels Mutter, über Gabis Schule und ihr kommendes gemeinsames Wochenende. Nach einer Weile fragte Fabel: »Weißt du noch, wie ich dir früher Gutenachtgeschichten vorgelesen habe?«
    »Ja, Papi. Sag bloß, du willst mich wieder mit warmer Milch ins Bett stecken und mir aus dem Struwwelpeter vorlesen.«
    Fabel lachte. »Nein. Erinnerst du dich, dass ich dir nie aus Grimms Märchen vorlesen durfte? Nicht einmal ›Schneeweißchen‹ oder ›Dornröschen‹?«
    »Ich erinnere mich sehr gut. Ich konnte diese Märchen nicht leiden.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht genau. Sie haben mir Angst eingejagt. Sie waren… gruselig. Als wären sie in Wirklichkeit nicht für Kinder, sondern für Erwachsene geschrieben worden. Es ist so ähnlich wie mit den Clowns. Die sollen lustig und freundlich sein, aber sie sind finster. Alt und finster. – Wie die geschnitzten Holzmasken, die im Süden zum Fasching getragen werden. Man merkt, dass sie mit allen möglichen alten Dingen zu tun haben, an die die Menschen früher einmal geglaubt haben. Warum fragst du?«
    »Oh, kein besonderer Grund. Einfach eine Sache, über die heute gesprochen wurde.« Fabel lenkte das Gespräch wieder zurück auf die Familie und die Planung für das Wochenende. Er konnte das Thema nicht weiterverfolgen, wenn er den Schatten seiner Arbeit nicht auf die Beziehung zu seiner Tochter fallen lassen wollte. Nachdem er aufgelegt hatte, kochte er etwas Pasta, schenkte sich Wein nach und setzte sich hin, um beim Essen die Einführung zu Gerhard Weiss’ Buch zu lesen.
    Deutschland ist das Herz Europas, und die Märchenstraße ist die Seele Deutschlands. Die Märchenstraße ist die Geschichte Deutschlands. Die Märchenstraße ist Deutschland.
    Unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Erfolge und Fehlschläge, unsere Güte und unsere Bosheit – all dies ist in der Märchenstraße zu finden. So war es immer, und so wird es immer sein. Wir sind die Kinder, die sich im Wald verirrt haben und nur von ihrer Unschuld geleitet werden. Aber wir können auch die Wölfe sein, die die Schwachen jagen. Vor allem streben wir Deutschen nach Größe: nach der Größe des Guten und der Größe des Bösen. Dies sind die Windungen, die wir stets eingeschlagen haben, und das deutsche Volksmärchen ist eine Erzählung über Reinheit und Verderbtheit, über Unschuld und Arglist.
    Diese Geschichte handelt von einem großen Mann; einem Mann, der uns half, uns selbst und unsere Sprache zu verstehen. Diese Geschichte – und es ist nicht mehr als eine Geschichte – folgt dem großen Mann über die Märchenstraße, den Pfad entlang, den er wirklich zurücklegte. Aber sie wirft auch die Frage auf: Was wäre gewesen, wenn er von dem Pfad abgekommen und in die Dunkelheit des Waldes gewandert wäre?
    Fabel überflog die Seiten. Es handelte sich um ein erfundenes Tagebuch, das Jacob Grimm angeblich auf den Reisen durch Deutschland geschrieben hatte, die er mit seinem Bruder unternahm, um Märchen zu sammeln. Grimm wurde als wählerischer Pedant dargestellt, der den Details der Morde, die er beging, genauso viel Aufmerksamkeit widmete wie seiner Arbeit als Philologe und Volkskundler. Schließlich stieß Fabel auf ein Kapitel, das ihn sein Weinglas niedersetzen ließ. Es trug die Überschrift »Der Wechselbalg«.
    Das Märchen vom Wechselbalg, eines unserer ältesten, soll als Warnung dienen. Es gibt nicht nur unserer größten Furcht – ein Kind zu verlieren – Ausdruck, sondern auch dem Schrecken darüber, dass etwas Falsches, Boshaftes und Schädliches in die Familie, in unser Heim, eingeschmuggelt wird. Außerdem warnt sie Eltern davor, dass ihnen wegen mangelnder Wachsamkeit im Umgang mit ihren Schutzbefohlenen eine Strafe drohen kann. Die Geschichte vom Wechselbalg ist überall in Deutschland, in den Niederlanden, in Dänemark, Böhmen, Polen und in noch ferneren Ländern in vielfacher Gestalt aufgetaucht. Sogar Martin Luther pflegte einen unerschütterlichen Glauben an Wechselbälger und schrieb mehrere Abhandlungen darüber, wie man sie verbrühen, ertränken oder prügeln könne, bis der Teufel komme, um sie zurückzuholen.
    Ich schrecke nicht vor schwerer Arbeit zurück, aber diese Geschichte hat mir die

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