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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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größte Mühe bei meinem Versuch bereitet, sie als lebendige Wahrheit neu zu begründen. Wie im Falle jedes derMärchen, die ich nachgespielt habe, widmete ich mich den Vorbereitungen voller Fleiß und Enthusiasmus. Für die Geschichte musste ich zwei Kinder finden: eines, das die Rolle des Wechselbalgs spielte, und ein anderes, das ich als das natürliche Kind seiner Mutter stehlen konnte.
    Meine Forschungen und die meines Bruders hatten uns in den Norden Deutschlands geführt, und wir hatten eine bescheidene Unterkunft in einem Dorf nahe der Ostseeküste gefunden. Neuerdings hatte ich im Dorf eine junge Frau mit rosiger Haut und goldblondem Haar beobachtet, welche die kräftige, ehrliche und ernste Dummheit der norddeutschen Bauern verkörperte. Diese Frau hatte ein neu geborenes Kind bei sich, das sie zuerst auf dem einen und dann auf dem anderen Arm trug. Ich wusste aus der Arbeit anderer hervorragender Volkskundler und durch meine eigene Forschung, dass diese Sitte als wechselseitiges Tragen von Säuglingen bekannt ist. Vom Rheinland über Hessen bis nach Niedersachsen und Mecklenburg ist der Aberglaube weit verbreitet, dass sich die Wahrscheinlichkeit, von den unterirdischen Leuten entführt zu werden, bei einem wechselseitig getragenen Säugling stark erhöht. Ich vermutete, dass dieses Kind noch nicht getauft und weniger als sechs Wochen alt war, was, wie man weiß, den Entführern am liebsten ist. Überdies hatten weder diese Bäuerin noch ihre Familienangehörigen die vier Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz eines Neugeborenen vor den unterirdischen Leuten befolgt. Diese habe ich bekanntlich in meinem Band Deutsche Mythologie aufgeführt, als da sind: Lege einen Schlüssel neben das Kleinkind; lass Frauen in den sechs Wochen nach der Geburt nie allein, denn dann werden sie leicht durch den Teufel beeinflusst; gestatte der Mutter in den ersten sechs Wochen nicht zu schlafen, sofern niemand sonst da ist, um über das Kind zu wachen; wann immer die Mutter das Zimmer verlässt, sollte ein Kleidungsstück des Vaters, vornehmlich seine Hose, über das Kind gelegt werden.
    Da die Mutter keine der Maßregeln befolgt hatte, würde dies das »echte« Kind der Geschichte sein. Sein Verschwinden würde die bleibende Wahrheit der Sage auf vollkommene Art veranschaulichenund die Menschen dieser Gegend daran erinnern, wie töricht es ist, alte Verbote zu missachten.
    Die Entführung des Kindes erwies sich als vergleichsweise leichter Teil des Planes. Ich hatte die Gewohnheiten der Frau sehr gründlich observiert und ausführliche Notizen darüber angefertigt. Wie ich herausfand, gab es eine Zeit unmittelbar vor Mittag, in der die Mutter das Kind unter freiem Himmel schlafen ließ, während sie sich ihren Haushaltspflichten widmete. Das war die Zeit, in der ich den Austausch vornehmen konnte. Sobald das »echte« Kind gestohlen war, würde ich es natürlich nicht mehr benötigen und rasch beseitigen. An seiner Stelle würde ich einen Wechselbalg hinterlassen, was schwerer zu bewerkstelligen ist. Wechselbälger sind, wie man weiß, grobschlächtiger als die, deren Platz sie geraubt haben. Dies erklärt sich durch ihre Herkunft von den unterirdischen Leuten, einer Rasse, die der wirklichen Menschheit so unterlegen und von so hässlichem Äußeren ist, dass sie sich unter der Erde, in der Nacht oder in den dunkelsten Schatten des Waldes verbirgt.
    Ich überdachte dieses Problem ein paar Tage lang, bis ich von einigen Zigeunern reden hörte, die ihr Lager unweit des Dorfes aufgeschlagen hätten. Die Feindschaft, welche die Dorfbewohner diesen Menschen gegenüber empfanden, sorgte dafür, dass sich die Zigeuner nicht in das Dorf selbst hineinwagen würden. Falls mein Plan nicht gelang und die Bewohner nicht auf ihren uralten Glauben an die unterirdischen Leute zurückgriffen, um die Entführung und den Austausch zu erklären, dann würden sie niemand anderen in Verdacht haben als die in der Nähe lagernden Zigeuner. Überhaupt bin ich mir nicht gewiss, ob dies wirklich ein Scheitern meines Versuches gewesen wäre, die Geschichte so wieder zu erschaffen, wie ich sie aufgezeichnet habe, denn im Laufe meiner Forschungen habe ich mir häufig die Frage gestellt, ob es nicht Zigeuner und andere Wanderer gewesen sein könnten, welche Anlass zu den Erzählungen über die unterirdischen Leute gegeben haben. Das Misstrauen und die Abneigung, die wir instinktiv gegenüber dem Fremden undUnbekannten verspüren, ist etwas, das ich stets für

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