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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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und den anderen in der linken Hand. Die Brüche heilten offenbar unbehandelt. Das legt nicht nur den Verdacht der Vernachlässigung, sondern der Misshandlung nahe. Der Bruch des Handgelenks rührt vermutlich von einer starken Überdrehung her.«
    »Von Werner habe ich erfahren, dass sie in den beiden Tagen vor ihrem Tod nicht viel zu sich genommen hat.«
    Möller entriss Fabel den Bericht und überflog die Seiten. »Jedenfalls nicht in den vierundzwanzig Stunden vor dem Tod, abgesehen von etwas Roggenbrot, das ein oder zwei Stunden vorher gegessen wurde.«
    Einen Moment lang war Fabel woanders: an einem dunklen, schrecklichen Ort zusammen mit einem Mädchen, das furchtsam seine letzte, karge Mahlzeit aß. Er kannte die Einzelheiten ihres Lebens nicht, aber er wusste, dass es genauso unglücklich wie kurz gewesen war. Möller gab Fabel den Bericht zurück, hob die Augenbrauen und blickte zur Tür.
    »Oh, Entschuldigung, Herr Doktor.« Fabel trat zur Seite. »Danke. Vielen Dank.«
    Fabel kehrte nicht zur Mordkommission zurück, sondern fuhr nach Hause und stellte den BMW in seiner Tiefgarage ab. Die blauen Augen des Mädchens verfolgten ihn noch immer. Ihr noch lebendig wirkender Blick suchte ihn mehr heim als das Grauen der zweiten Mordszene. Der Blick des Wechselbalgs. Des unerwünschten, falschen Kindes, das gegen das geliebte, wahre Kind ausgetauscht wird.
    Wieder stellte er sich ihre letzten Stunden vor: die kümmerliche Mahlzeit, die sie zu sich genommen und die ihr höchstwahrscheinlich ihr Mörder gebracht hatte. Danach war sie erwürgt und erstickt worden. Er musste an die uralten Opfer denken, die hin und wieder in den Torfmooren Norddeutschlands und Dänemarks auftauchten: Leichen, die sich drei Jahrtausende oder länger in dem dunklen, feuchtweichen Boden erhalten hatten. Viele hatte man erdrosselt oder ertränkt. Sogar jenen Personen, die einen hohen Rang gehabt zu haben schienen, war ein karges letztes, rituelles Mahl aus Haferbrei verabreicht worden. Welchem Zweck war dieses Mädchen geopfert worden? Nichts deutete auf ein sexuelles Motiv hin. Also weshalb hatte sie ihr Leben lassen müssen? War sie vielleicht einfach deshalb umgebracht worden, weil sie einem anderen Mädchen, das ebenfalls tot sein musste, so sehr ähnelte?
    Fabel schloss die Tür zu seiner Wohnung auf. Susanne arbeitete bis zum späten Abend im Institut und würde heute nicht mehr vorbeikommen. Er hatte die Bücher aus Ottos Geschäft mitgebracht und legte sie auf den Kaffeetisch. Dann schenkte er sich ein Glas trockenen Weißweins ein und ließ sich auf das Ledersofa sinken.
    Fabels Wohnung war die frühere Mansarde einer ehemals imposanten, wuchtigen Villa und lag im eleganten Pöseldorf im Stadtteil Rotherbaum. Wenn er aus der Haustür trat, konnte er innerhalb weniger Minuten zu Fuß manche der besten Restaurants und Cafés in Hamburg erreichen. Fabel hatte seine Mittel strapazieren müssen, um sich diese Wohnung leisten zu können, wobei er eine größere Quadratmeterzahl einem wunderbaren Ausblick und einer herrlichen Umgebung geopfert hatte. Er hatte sie zu einem Zeitpunkt wirtschaftlicher Flaute erworben, als die Immobilienpreise in der Stadt gleichzeitig gesunken waren. Manchmal dachte er mit gemischten Gefühlen daran, dass die deutsche Wirtschaft und seine Ehe zur selben Zeit in dieKrise geraten waren. Bei den gegenwärtigen Preisen hätte er sich eine Bleibe wie diese niemals leisten können, nicht einmal mit seinem Gehalt als Erster Kriminalhauptkommissar.
    Die Wohnung lag einen Block von der Milchstraße entfernt, und das vom Boden bis zur Decke reichende Panoramafenster blickte auf die Magdalenenstraße, den Alsterpark und die Außenalster hinaus. Vom Fenster sah er auf die Stadt und die Weite des Himmels. Vor ihm breitete sich Hamburg aus. Ein dunkler Wald, in dem sich unzählige Seelen verirren konnten.
    Er rief seine Mutter an. Sie versicherte ihm, dass es ihr gut gehe, und schimpfte über das »ständige Getue«. Auch machte sie sich Sorgen, dass Lex Gäste verlieren könne, weil er bei ihr blieb, statt zu seinem Restaurant auf Sylt zurückzukehren. Wieder hatte die Stimme seiner Mutter am Telefon eine beruhigende Wirkung auf Fabel. Es war eine alterslose Stimme, die er von dem weiß werdenden Haar und den langsamer werdenden Bewegungen trennen konnte.
    Danach wählte er Gabis Nummer, doch zunächst meldete sich Renate, seine Exfrau. Ihr Tonfall lag wie immer irgendwo zwischen Desinteresse und Feindseligkeit. Fabel

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