Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
hätte man ihr einen Stich versetzt. »Sie irren sich, Frau Kriminalkommissarin«, sagte sie, an Anna gewandt. »Der Mörder benutzt die Brüder Grimm als literarischen Bezug, nicht Andersen oder Perrault. Das tote Mädchen symbolisiert nicht die kleine Meerjungfrau, sondern einen Wechselbalg.«
Fabel spürte ein Kribbeln auf der Haut. »Weiter…«
»Es gibt eine von den Grimms aufgezeichnete Geschichtemit dem Titel ›Der Wechselbalg‹ und eine andere mit der Überschrift ›Die zwei unterirdischen Weiber‹.« Fabels Haut kribbelte noch stärker. »Laut den Anmerkungen zu den Märchen existierte ein ganzes Glaubenssystem, innerhalb dessen man davon ausging, dass Kinder – besonders ungetaufte Kinder – von ›unterirdischen Personen‹ entführt wurden, die stattdessen Wechselbälger zurückließen. Hören Sie selbst: ›Diese unterirdischen Personen reisten häufig auf dem Wasser, und viele der Erzählungen handelten von Wechselbälgern, die am Ufer der Elbe oder der Saale gefunden wurden.‹«
»Und Blankenese liegt am Ufer der Elbe«, stellte Fabel fest. »Außerdem wird auf dem Zettel in der Hand des Mädchens auf einen Aufenthalt ›unter der Erde‹ hingewiesen, und sie wurde dort mit der Identität eines anderen, vermissten Mädchens zurückgelassen. Ein Wechselbalg.«
Werner atmete laut durch. »Mein Gott, das hat uns noch gefehlt. Ein literaturbesessener psychopathischer Mörder. Glaubst du, er plant, nach Vorlage jedes der Grimm’schen Märchen einen Mord zu begehen?«
»Wir können nur beten, dass er das nicht plant«, erwiderte Susanne an Fabels Stelle. »Allein dieser Band enthält mehr als zweihundert der von den Grimms gesammelten Märchen.«
18.
Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Montag, den 22. März, 17.10 Uhr
Möller war noch größer als Fabel und schlank. Sein Haar war blassblond, mit elfenbeinfarbenen Strähnen gesprenkelt, und er hatte eckige Züge. Für Fabel gehörte er zu jenen Menschen, deren Äußeres sich mit ihrer Kleidung jäh ändert: Möllers Gesicht konnte einem Nordseefischer oder einem Aristokratengehören. Als sei er sich dieser Tatsache bewusst und als wolle er ein Image aufrechterhalten, das seinem gebieterischen Wesen entsprach, kleidete sich Möller in der Regel im Stil eines englischen Gentlemans. Als Fabel das Büro des Gerichtsmediziners betrat, zog Möller gerade eine grüne Cordjacke über sein Jermyn-Street-Hemd. Während er hinter seinem Schreibtisch hervorkam, erwartete Fabel fast, dass er jene grünen Gummistiefel trug, die die britische Königsfamilie Gucci-Modellen vorzuziehen schien.
»Was wollen Sie, Herr Fabel?«, fragte Möller ohne jeden Charme. »Ich fahre jetzt nach Hause. Feierabend. Was es auch sein mag, es kann bis morgen warten.«
Fabel blieb schweigend auf der Schwelle stehen. Möller seufzte, setzte sich jedoch nicht wieder hin. »Also gut. Worum geht’s?«
»Sie haben doch die Obduktion des Mädchens vom Blankeneser Elbstrand vorgenommen?«
Möller nickte kurz, schlug einen Ordner auf seinem Schreibtisch auf und zog einen Bericht hervor. »Das wollte ich Ihnen morgen geben. Viel Spaß.« Mit einem müden, ungeduldigen Lächeln kam er zur Tür geschritten und drückte Fabel den Bericht an die Brust. Fabel blieb weiterhin auf der Schwelle stehen und setzte ein entwaffnendes Grinsen auf.
»Bitte, Herr Doktor. Nur die wichtigsten Ergebnisse.«
Möller seufzte. »Wie ich Kriminaloberkommissar Meyer bereits mitgeteilt habe, ist sie erstickt. Neben den Würgemalen am Hals gab es Anzeichen für eine Beschädigung der Blutgefäße um Nase und Mund. Offenbar wurde sie gleichzeitig stranguliert und erstickt. Nichts deutet auf sexuelle Gewalt oder irgendeine Form sexueller Aktivität in den achtundvierzig Stunden vor dem Tod hin. Aber dass sie sexuell aktiv war, steht außer Zweifel.«
»Sexueller Missbrauch?«
»Nichts lässt etwas anderes als ein normales Geschlechtsleben vermuten. Es fehlte die innere Narbenbildung, die füreinen frühen sexuellen Missbrauch typisch ist.« Möller fuhr fort: »Zweitens zeigte die Autopsie einen schlechten Zustand ihrer Zähne. Auch das habe ich Herrn Meyer wissen lassen. Sie hat selten einen Zahnarzt aufgesucht – nur in Notfällen, wenn sie große Schmerzen hatte. Sie litt unter umfassender Karies und fortgeschrittenem Zahnfleischschwund, und einer der unteren linken Backenzähne war gezogen worden. Außerdem hatte sie zwei alte Brüche: einen am rechten Handgelenk
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