Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
sie erst jetzt ausfindig gemacht, weil sie selten in der Schule war.« Er musterte das Foto erneut. Es war das Gesicht, das er am Blankeneser Strand vor sich gehabt hatte. Auf dem Bild lächelte Martha, aber ihre Augen sahen traurig aus – zu alt und zu erfahren für ihre sechzehn Jahre. Ein Mädchen ungefähr im Alter seiner Tochter, doch sie betrachtete die Welt durch jene hellen, himmelblauen Augen und sah zu viel. »Irgendwelche Angaben darüber, wann und wo genau sie verschwunden ist?«
»Nein. Irgendwann zwischen Sonntagabend und… na ja, der Vermisstenmeldung zufolge am Dienstag. Möchtest du, dass ich hinfahre – nach Kassel, meine ich – und mich erkundige?«
»Nein.« Fabel rieb sich mit den Handballen über die Augen.»Überlass das der hessischen Polizei, wenigstens vorläufig. Dort dürfte nichts Wichtiges zu finden sein, es sei denn, die Kollegen spüren noch einen Entführungszeugen auf. Aber sie sollen alle Bekannten Marthas mit Verbindung nach Hamburg überprüfen. Meiner Ansicht nach stammt der Mörder von hier – aus Hamburg oder Umgebung – und hat vorher weder mit Martha Schmidt noch mit irgendeinem ihrer Bekannten in Kontakt gestanden. Trotzdem solltest du so viele Einzelheiten wie möglich über ihre letzten Schritte in Erfahrung bringen.« Er lächelte seine Mitarbeiterin an. »Fahr aber erst einmal nach Hause, Anna, und schlaf ein bisschen. Wir machen morgen weiter.«
Anna nickte matt und ging hinaus. Fabel setzte sich an seinen Schreibtisch, holte seinen Skizzenblock hervor, strich den Namen »Blaue Augen« durch und schrieb stattdessen »Martha Schmidt« auf das Blatt. Auf dem Weg nach draußen heftete er das Foto an die Schautafel im Konferenzzimmer.
20.
Institut für Rechtsmedizin, Hamburg-Eppendorf, Dienstag, den 23. März, 11.10 Uhr
Der Vater lebte offensichtlich nicht mehr bei seiner Familie. Ulrike Schmidt war eine kleine Frau, die aussah wie Mitte vierzig, doch Fabel wusste aus den Mitteilungen der Kasseler Polizei, dass sie erst Mitte dreißig war. Früher mochte sie hübsch gewesen sein, doch nun beherrschte die gleichgültige Härte der Drogensüchtigen ihr Gesicht. Dem Blau ihrer Augen fehlte jeglicher Glanz, und die Schatten darunter waren gelblich. Ihr blondes Haar war stumpf, und sie hatte es hastig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Jackett und ihre Hose waren wahrscheinlich noch vor relativ kurzer Zeitgepflegt gewesen, doch mehr als zehn Jahre alt. Fabel vermutete, dass sie diese Sachen aus ihrem kümmerlichen Kleiderschrank geholt hatte, um dem Ereignis angemessen gekleidet zu sein. Und das Ereignis war die Identifizierung ihrer toten Tochter.
»Ich bin mit dem Zug gekommen«, flüsterte sie, um überhaupt etwas zu sagen, während die drei darauf warteten, hineingerufen zu werden. Fabel nickte kummervoll. Anna schwieg.
Vor der Fahrt zum Leichenschauhaus im Institut für Rechtsmedizin hatten sich Fabel und Anna im Polizeipräsidium mit Ulrike Schmidt zusammengesetzt und sie nach ihrer Tochter befragt. Fabel dachte daran, wie er sich darauf eingestellt hatte, in jeden Winkel des Lebens der Toten vorzudringen, dieser Fremden, die er bald ganz genau kennen würde. Aber es war ihm nicht gelungen, Einzelheiten über das Mädchen am Strand zu erfahren. Ein paar Stunden lang war sie jemand anders gewesen, um dann erneut zu einem Niemand zu werden. Im Vernehmungszimmer der Mordkommission hatten sich Anna und Fabel bemüht, dem Namen Martha Schmidt eine zusätzliche Dimension zu verleihen, damit das tote Mädchen wenigstens in ihrer Fantasie aufleben konnte. Die Autopsie hatte gezeigt, dass Martha sexuell aktiv gewesen war, und die Polizisten hatten ihre Mutter nach Freunden und Bekannten und nach dem Zeitvertreib des Mädchens befragt – besonders dann, wenn Martha in der Schule hätte sein sollen. Aber Ulrike Schmidts Antworten hatten vage, ungewiss geklungen, als beschriebe sie jemanden am Rande ihres Bewusstseins und nicht ihr eigenes Fleisch und Blut: ihre Tochter.
Nun warteten sie im Vorzimmer des Leichenschauhauses darauf, zur Identifizierung von Marthas Leiche hineingerufen zu werden. Und Ulrike Schmidt konnte von nichts anderem als ihrer Reise sprechen. »Dann bin ich mit der U-Bahn vom Hauptbahnhof weitergefahren«, sagte sie dumpf. Schließlich bat man sie hinein.
Das Laken wurde von dem Gesicht der Leiche auf der Bahre fortgezogen, und Ulrike Schmidt betrachtete es ausdruckslos. Einen Moment lang merkte Fabel, wie sich eine leichte Panik in
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