Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Wanderweg gefunden hatte, stimmten nicht mit denen neben dem Parkplatz überein. »Das Seltsame ist«, sagte Werner, »dass beide Paare die gleiche Größe hatten. Riesig… Größe 50.«
»Vielleicht hat er aus irgendeinem Grund die Stiefel gewechselt«, schlug Anna vor.
»Wir konzentrieren uns auf den Motorradfahrer, der den Försterpfad benutzt hat«, sagte Fabel. »Er wartete darauf, dass die beiden eintrafen, und beobachtete sie. Das ist unsere Vermutung.«
»Der Autopsiebericht für das erste Opfer steht noch aus«, fuhr Werner fort, »ebenso wie die forensischen Berichte über die Autos, die im Wald zurückgelassen wurden. Das erste Opfer wurde wahrscheinlich erwürgt. Bei dem Doppelmord hat der Täter offensichtlich eine Waffe unterschiedlich eingesetzt. Durch die kleinen Zettel, die er den Opfern in die Hand drückte, entsteht eine Verbindung zwischen den Morden.« Werner stand auf und las den Inhalt der Notizen laut vor.
»Wir müssen zunächst einmal herausfinden, ob dieser jüngste Hinweis auf das Märchen von Hänsel und Gretel so etwas wie ein krankhafter, einmaliger Witz ist, der sich damit begründet, dass der Mörder seine Opfer im Wald zurückließ«, meinte Susanne, »oder ob er wirklich eine generelle Verbindung zu den Märchen herstellen will.«
»Aber auf dem ersten Zettel deutet nichts auf ein Märchen hin.« Fabel drehte sich um und betrachtete die Vergrößerung der Nachrichten, als wolle er der winzigen, zwanghaft sauberen Handschrift einen weiteren Sinn entlocken.
»Es sei denn, wir erkennen den Hinweis nicht«, meinte Susanne.
»Bleiben wir zunächst bei ›Hänsel und Gretel‹«, schlug Fabel vor. »Nehmen wir an, er will uns etwas mitteilen. Was könnte das sein? Wer sind Hänsel und Gretel?«
»Unschuldige Kinder, die sich im Wald verirrt haben.« Susanne lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Und das passt nicht zu dem, was wir über die Opfer wissen. Es ist ein traditionelles deutsches Volksmärchen… eines von denen, die die Brüder Grimm gesammelt und aufgezeichnet haben. Außerdem ist es eine Oper von Humperdinck. Hänsel und Gretel waren Bruder und Schwester – wieder etwas, das nicht zu den beiden Opfern passt. Sie verkörpern die Unschuld, die von der Verderbnis und vom Bösen bedroht wird, und sie tragen letztlich den Sieg über beides davon…« Susanne machte eine »Das ist alles«-Geste mit den Händen.
»Ich hab’s!« Anna Wolff hatte eines der Bücher auf dem Tisch durchgeblättert, und nun klatschte sie mit der Hand auf die geöffneten Seiten.
»Was?«, fragte Fabel. »Die Verbindung zu ›Hänsel und Gretel‹?«
»Nein. Nein… Entschuldigung, Chef, ich meinte das erste Mädchen. Mir scheint, ich habe den Märchenbezug. Ein junges Mädchen, das an einem Strand gefunden wird, richtig? Am Wasser?«
Fabel nickte ungeduldig.
Anna hob das Buch für die anderen hoch. Die gegenüberliegende Seite vom Text zeigte die Federzeichnung eines traurig aussehenden Mädchens, das auf einem Fels am Meer saß. Die Illustration gab die berühmte kleine Plastik wieder,die auch Fabel bei einem Besuch in Kopenhagen bewundert hatte.
»Die kleine Meerjungfrau? Hans-Christian Andersen?« Fabel klang nicht überzeugt, auch wenn um den Tisch herum ein Chor der Zustimmung zu hören war. Er musterte das Bild erneut. Es war eine überaus beliebte Skulptur. Die Beine der auf dem Fels sitzenden Gestalt waren unter dem Körper verschränkt wie der Schwanz einer Nixe. Es war geradezu eine Einladung für einen Serienmörder, der ein Opfer in einer bestimmten Haltung zurücklassen wollte: in einer sofort erkennbaren Pose. Doch das Mädchen am Strand hatte nicht auf einem Fels gesessen oder sich dagegen gelehnt. In ihrer Umgebung hatten sich überhaupt keine Felsen befunden, sondern es gab nur den Zettel, die falsche Identität und die Aussage: »Ich bin unter der Erde gewesen.« Schließlich antwortete er: »Ich weiß nicht, Anna. Es ist eine Möglichkeit, aber es gibt sehr viele Abweichungen von unserer Situation. Können wir weitersuchen?«
Jedes Mitglied des Teams nahm sich ein Buch vor und schlug es auf. Fabel wählte Andersens Märchen und las rasch »Die kleine Meerjungfrau«. Er dachte an das tote Mädchen mit den himmelblauen Augen zurück. Am Rand des Wassers liegend und darauf wartend, dass sie gefunden wurde. Anna hatte das Exemplar der Kinder- und Hausmärchen in der Hand, während Susanne Die deutschen Sagen der Brüder Grimm überflog.
Plötzlich blickte Susanne auf, als
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