Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
du, Anna?«
»Es ist denkbar. Obwohl er die Familie Ehlers stark unterstützt hat, konnte er seine Verachtung für ihre niedrigen Erwartungen und Ambitionen nicht verbergen. Allerdings steht Fendrich, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit Paula Ehlers’ Verschwinden, und das bildet noch keinen Bestandteil unserer Ermittlung. Er hat kein Alibi für die anderen Fälle. Aber er wohnt schließlich auch allein in dem großen Haus, das er sich früher mit seiner Mutter geteilt hat. Wenn er Alibis für die anderen Fälle vorgewiesen hätte, wäre ich misstrauisch geworden. Gefühlsmäßig halte ich ihn nicht für unseren Mann. Trotzdem, es macht mir zu schaffen, dass er Paula die Kinder- und Hausmärchen geschenkt hat, obwohl er freiwillig darauf zu sprechen kam.«
»Okay, aber Fendrich bleibt auf der Verdächtigenliste. Dann haben wir noch Weiss, den Schriftsteller…«
»Schön, Chef«, sagte Maria, »für den bist du in erster Linie zuständig. Warum sollen wir ihn als Verdächtigen betrachten?«
»Weil es beunruhigende Parallelen zwischen den Morden und Weiss’ Roman Die Märchenstraße gibt. Bei beiden geht es um die Themen der Gebrüder Grimm und um einen Serienmörder, der Märchen zum Leben erweckt. Weiss zieht dadurch die Aufmerksamkeit der Medien auf sich und erhöht die Verkaufszahlen seines Buches.«
Anna lachte leise. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass diese Morde so etwas wie ein verrückter PR -Event für sein Buch sind?«
»Nicht unbedingt. Aber Weiss ist vielleicht fähig, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Jedenfalls ist er ein eitler, arroganter Sack. Damit nicht genug, er kann einem Angst einjagen. Und er ist groß. Wirklich groß und kräftig. Laura von Klosterstadts Autopsie hat ergeben, dass sie von jemandem mit einer gewaltigen Handspanne festgehalten wurde.«
»Das könnte Olsen sein«, sagte Anna. »Oder sogar Fendrich.«
Fabel wandte sich Maria zu. »Was hast du über Weiss herausgefunden, Maria?«
»Keine Vorstrafen. Er ist siebenundvierzig Jahre alt, zweimal verheiratet, zweimal geschieden, keine Kinder. Geboren in Kiel. Seine Mutter ist Ausländerin – eine Italienerin aristokratischer Herkunft –, und sein Vater war Eigentümer eines Unternehmens in Kiel, das mit Schifffahrt zu tun hatte. Er ging auf teure Internate hier in Hamburg sowie in England und Italien. Dann auf die Universität Hamburg… Sein Debütroman wurde kurz nach seinem Studienabschluss veröffentlicht, ohne sonderlichen Erfolg. Sein erster ›Wahlwelten‹-Roman kam 1981 heraus und schlug groß ein. Das ist es mehr oder weniger. Ach ja, er hatte einen Bruder. Einen jüngeren Bruder. Doch der ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben.«
Fabel wirkte wie von der Tarantel gestochen. »Einen Bruder? Gestorben? Wie denn?«
»Anscheinend Selbstmord. Irgendeine Geisteskrankheit.«
»War er vielleicht zufällig Bildhauer?«
Maria war überrascht. »Das stimmt. Woher weißt du das?«
»Ich glaube, ich habe eines seiner Werke gesehen«, sagte Fabel, und das Gesicht des fauchenden, aus Ebenholz geschnitzten Wolfes ging ihm durch den Kopf. Er schaute hinunter ins Wasser neben der Gaststätte. Die Schwäne hatten dem durchweichten Brot den Rücken zugewandt und paddelten träge zurück in Richtung der Brücke. Er drehte sich wieder zu seinem Team um. »Henk hat Recht. Wir alle sollten Weiss’ Buch Die Märchenstraße zu unserer Pflichtlektüre machen. Ich sorge dafür, dass jeder von euch bis heute Abend ein Exemplar bekommt. Und lest es auf jeden Fall.«
Fabel hatte Anna aufgefordert, noch ein wenig zu warten, und ihr angeboten, sie zum Präsidium zu fahren. Henk Hermann hatte unschlüssig herumgelungert, bis Fabel ihn anwies, Maria zu begleiten. Sie saßen allein am Tisch. Fabel bestellte einen weiteren Kaffee und hob fragend eine Augenbraue. Anna schüttelte den Kopf.
»Hör zu, Anna«, sagte Fabel, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. »Du bist eine außergewöhnliche Polizistin, eine wirkliche Bereicherung für das Team. Aber es gibt Dinge, über die wir uns unterhalten müssen…«
»Zum Beispiel?«
Er drehte ihr das Gesicht zu. »Zum Beispiel deine Aggressivität. Du musst stärker als Teammitglied, nicht als Individuum arbeiten.«
Annas Miene verhärtete sich. »Ich dachte, dass du uns deshalb herangezogen hast… wegen unserer Individualität. Weil wir alle verschieden sind.«
»Richtig, Anna. Aber deine individuellen Fähigkeiten nützen mir nur dann etwas, wenn du dich ins übrige Team
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