Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
dass Sie sich wirklich um sie kümmern wollten. Ich muss sie einfach finden. Und was ich von Ihnen will, Herr Fendrich, ist irgendetwas, das mir die Richtung anzeigt.«
Fendrich rührte seinen Cappuccino noch einmal um und betrachtete den Schaum. Dann blickte er auf. »Kennen Sie den Dramatiker George Bernard Shaw?«
Anna hob die Schultern. »Das wäre eher etwas für meinen Chef. Kriminalhauptkommissar Fabel begeistert sich für alles Englische.«
»Shaw war allerdings Ire. Er sagte einmal: ›Wer etwas kann, tut es; wer es nicht kann, unterrichtet.‹ Damit wurden im Grunde sämtliche Lehrer als Versager eingestuft, und außerdem bestritt Shaw, dass Unterrichten ein wertvoller Beruf ist. Ich bin nicht zufällig an dieses Metier geraten, Frau Wolff, sondern ich wurde dazu berufen, und ich liebe es. Jeden Tag stehe ich vor einer Klasse junger Menschen nach der anderen. Ihre Geister müssen noch ausgebildet und voll entwickelt werden.«
Er lehnte sich zurück und lachte bitter. Seine Finger ruhten immer noch auf dem Löffel, und er starrte erneut auf die schaumige Oberfläche seines Kaffees. »Natürlich gibt es sehr viel… Verschmutzung, wie man sagen könnte. Kulturelle Verschmutzung – durch das Fernsehen, das Internet und all die Wegwerf-Technologien, mit denen junge Menschen heute überschüttet werden. Aber hin und wieder stößt man auf einen frischen, klaren Geist, der nur darauf wartet, seinen Horizont zu erweitern.« Fendrichs Augen waren nicht mehr leblos. »Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die Polizei wegen eines solchen Verbrechens gegen jemanden ermittelt? Nein. Und Sie können keine Vorstellung davon haben, wie man sich als Lehrer in einer solchen Situation fühlt. Als jemand, dem die Eltern das anvertrauen, was ihnen am kostbarsten ist. Ihr Kollege, Herr Klatt, hat meine Karriere fast zerstört. Und mich auch. Die Schüler haben darauf geachtet, nicht mit mir allein zu sein. Und die Eltern und sogar meine Kollegen sind mir mit unverhüllter Feindseligkeit begegnet.« Er hielt inne, als wäre er gejoggt und wisse nicht, wohin. Dann schaute er beide Polizisten an. »Ich bin nicht pädophil. Ich habe kein sexuelles Interesse an Mädchen oder Jungen. Kein physisches Interesse. Es geht mir um ihren Geist. Und Paulas Geist war ein Diamant. Ein kristallklarer, beängstigend scharfer und durchdringender Intellekt. Der Diamant musste noch geschliffen und verfeinert werden, aber er war hervorragend.«
»Wenn das zutrifft«, sagte Anna, »dann verstehe ich nicht, wieso Sie der Einzige zu sein scheinen, der das erkannt hat. Kein anderer Lehrer hielt Paula für mehr als eine Durchschnittsschülerin. Sogar ihre Eltern sind der Meinung, dass Sie auf dem Holzweg waren.«
»Sie haben Recht. Niemand anders sah es. Aber nur, weil niemand genau hinguckte. Paula galt meistens als faul und verträumt, wenn auch nicht schwer von Begriff. Genau das geschieht, wenn ein begabtes Kind in einer erzieherischen Umgebung – oder auch in einer häuslichen Umgebung – gefangen ist, die es intellektuell nicht herausfordert. Außerdem zeigte sich Paulas Talent in meinem Fach am deutlichsten… Sie hatte ein Ohr und eine Befähigung für die deutsche Sprache. Undwenn sie etwas schrieb… dann war es, als singe sie. Aber neben denen, die es nicht sehen konnten, gab es noch andere, die es nicht sehen wollten.«
»Ihre Eltern?«, fragte Henk Hermann.
»Genau. Paula hat für mich eine Geschichte als Hausaufgabe geschrieben. Es war fast ein Märchen. Sie tanzte durch unsere Sprache hindurch. In jenem kurzen Text, mit kindlicher Hand geschrieben, bin ich jemandem begegnet, der mir das Gefühl gab, völlig unbegabt zu sein. Ich nahm die Geschichte mit, als ich ihre Eltern besuchte, und forderte sie auf, den Text zu lesen. Nichts. Es bedeutete ihnen nichts. Ihr Vater fragte mich, wie nützlich Erzählungen seien, wenn man eine Stelle suche.« Fendrich blickte plötzlich auf, als wäre all die Energie, die ihn kurzfristig beseelt hatte, abgeebbt. »Aber nun ist Paula tot. Wie Sie gesagt haben: Sie wissen es, und ich weiß es.«
»Woher wissen Sie es? Was lässt Sie so sicher sein, dass Paula, wenn sie wirklich intellektuell so eingeengt war, wie Sie meinen, nicht einfach weggelaufen ist?«, fragte Hermann.
»Weil sie mir nicht geschrieben hat. Und sonst auch niemandem. Wäre sie von zu Hause ausgerissen, hätte sie ganz bestimmt einen Brief, eine Notiz hinterlassen… etwas Schriftliches. Wie gesagt, es war so, als
Weitere Kostenlose Bücher