Jan Fabel 04 - Carneval
mochte tot sein, doch wer oder was noch existierte, war entschlossen zu überleben. Verletzt und gebrochen in einem leeren Kühlraum liegend, musste sie sich von ihrem Körper trennen. Nur so konnte sie ihre letzten Reserven mobilisieren, um einen Ausweg zu finden.
Maria quälte sich auf die Beine, hüllte sich in die Decke und bewegte sich auf die schwere Tür des Kühlraums zu. Sie drückte die Wange an den kalten Stahl, doch die Tür war so dick, dass sie kein Geräusch aus dem Nachbarraum hören konnte. Sie machte einen Rundgang durch die Kammer und hielt Ausschau nach irgendeinem Gegenstand, der sich als Waffe benutzen ließ. Ohne Erfolg. Und selbst wenn sie etwas gefunden hätte, wäre sie dem Wächter und seiner Pistole mit einer improvisierten Waffe nicht gewachsen gewesen. Maria setzte sich wieder auf die Matratze und dachte über ihre Situation nach. Sie wurde mit Essen versorgt, was bedeutete, dass Witrenko sie aus irgendeinem Grund am Leben erhalten wollte, wenn auch vielleicht nur für ein paar Tage. Vorsichtig berührte sie den Wulst an ihrer Stirn, um sich noch deutlicher zu machen, dass ihre Feinde grundsätzlich wenig Interesse an ihrem Wohlergehen hatten. Sie war eine Geisel und hätte in keiner geeigneteren Umgebung eingesperrt sein können: ein Stück Fleisch, das aufbewahrt wurde, bis es Gewinn brachte.
Die nächste Mahlzeit wurde von Olga Sarapenko hereingetragen, die übernächste wieder von ›der Nase‹. Vielleicht arbeiteten sie in Schichten. Wenn Maria einen Fluchtversuch machen wollte, würde sie sich das Miststück Sarapenko vornehmen. Sie wusste, dass sie ›die Nase‹ nicht überwältigen konnte. Auch Olga Sarapenko war ihr, selbst wenn sie sich in Bestform befunden hätte, wahrscheinlich hoffnungslos überlegen. Aber die Jahre in der Mordkommission hatten Maria gelehrt, dass jeder Mensch jeden anderen töten kann. Es hatte nichts mit Kraft, sondern nur mit einem mörderischen Vorsatz zu tun. Mit der eisernen Entschlossenheit, alle Grenzen zu überschreiten.
Auch wenn Witrenko sie als Faustpfand einsetzte, würde er sie auf keinen Fall überleben lassen. Sobald sie für seine Pläne überflüssig war, würde er sie auf eine Art töten, die seinem pervertierten Gerechtigkeitssinn entsprach. Das Verfahren würde blutig, langsam und qualvoll sein.
Ihre Gedanken kehrten zu den unmittelbaren Umständen zurück. Sie musste Witrenko und dem Schicksal, das er für sie plante, dadurch entgehen, dass sie sich befreite oder bei ihrem Fluchtversuch starb. Sie würde entweder leibhaftig oder im Geist fliehen.
Ihr Vorhaben nahm Gestalt an.
Es war möglich, dass sich entweder Olga Sarapenko oder ›die Nase‹ allein in dem Gebäude aufhielt. Die Farce der Überwachungsaktion war nur inszeniert worden, um sie irrezuführen. – Nein, das stimmte nicht. Die Übung hatte noch einen anderen Zweck gehabt. Witrenko hatte Molokow elektronisch überwachen lassen, weil er argwöhnte, verraten worden zu sein. Molokow war schon lange vor Marias Eintreffen dem Untergang geweiht gewesen. Von Witrenko wusste sie, dass Buslenko tatsächlich einen Schlag gegen ihn hatte führen wollen, doch Opfer eines Spitzels geworden war. Vielleicht hatte Olga Sarapenko dabei ihre Finger im Spiel gehabt.
Maria hatte keinen anderen Wächter zu Gesicht bekommen. Wenn Sarapenko oder ›die Nase‹ ihr Nahrung brachte, war durch die geöffnete Tür kein Laut von draußen zu hören. Im schlimmsten Fall würde ›die Nase‹ nebenan sein, wenn Sarapenko eintrat. Maria spielte immer wieder alle Szenarien durch, mit denen sie Sarapenko ausschalten konnte. Aber Sarapenko und ›die Nase‹ würden auf fast jedes Szenario vorbereitet sein: darauf, dass sie sich hinter der Tür versteckte, sich krank oder tot stellte und dann zu einem plötzlichen Angriff ansetzte. Maria musste sich etwas Außergewöhnliches, Unberechenbares einfallen lassen. Und zwar für den Augenblick, in dem Olga Sarapenko mit der Mahlzeit hereinkam. Sie war sich der bitteren Ironie bewusst, dass sie lange alle Speisen weitgehend gemieden hatte und dass diese ihr nun die einzige Überlebenschance boten. Sie dachte daran, wie oft sie sich absichtlich erbrochen hatte, um ihren Magen zu entleeren. Daran, wie sie ihre Technik vervollkommnet hatte.
Nun prägte sich der Plan allmählich aus. Vermutlich würde sie bis zur nächsten Mahlzeit vier oder fünf Stunden Zeit haben. Zeit, die sie geschickt nutzen musste.
2.
Fabel blinzelte in das Licht, das durch die
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