Jan Fabel 04 - Carneval
wahrscheinlich würde sie wieder im Auto warten müssen. Doch vorher würde sie sich in die Gaststätte auf der anderen Straßenseite setzen und die Wohnung durchs Fenster im Auge behalten.
Sobald Maria eintrat, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Gäste waren fast ausschließlich Männer, abgesehen von ein paar ordinär wirkenden Frauen, die in der Mehrzahl zehn Jahre zu jung für ihre üppigen Figuren gekleidet waren. Maria, eingehüllt in den weiten Pullover und Jeans, reagierte angewidert auf die Zurschaustellung von Fleisch und Altersfalten. Sie setzte sich, wie beschlossen, ans Fenster. Zwei Männer folgten ihr vom Tresen aus mit den Augen, machten ein paar Bemerkungen und brachen in Gelächter aus. Der Wirt kam an ihren Tisch, und sie bestellte ein Bier.
»Nichts zu essen?«
»Nichts zu essen.«
Maria bezahlte das Bier, sobald es gebracht wurde. Sie war sich der Blicke der Männer am Tresen sowie der feindseligen Mienen der blondierten Frauen bewusst. Deshalb beschloss sie, die Wohnung nur ein paar Minuten aus der Kneipe zu beobachten und dann in ihr Auto zurückzukehren. Zwei Streifenpolizisten schritten am Fenster vorbei. Im Gegensatz zur Polizei Hamburg, deren Angehörige zu den neuen blauen Uniformen übergewechselt waren, trugen die nordrhein-westfälischen Beamten noch die in den Siebzigerjahren entworfene grün-beige Kleidung. Es war seltsam für Maria, die Polizisten, die ihr wie außerirdische Geschöpfe vorkamen, vorbeigehen zu sehen. Irgendetwas in ihrem Innern war, das wusste sie, zerbrochen und konnte nicht wiederhergestellt werden. Hamburg und ihre Arbeit als Kriminalbeamtin schienen ihr nun sehr fern zu sein.
»Alles klar, Schätzchen?«
Ohne sich umzudrehen, wusste Maria, dass es einer der Säufer vom Tresen sein musste. Sie antwortete nicht.
»Wollte wissen, ob alles klar ist, Schätzchen?«, wiederholte der Mann und fügte etwas in einem schwer verständlichen Dialekt hinzu, der Kölsch sein musste.
Maria ließ ihr Bier unangetastet und erhob sich, um die Gaststätte zu verlassen. Der Mann, der ihr den Weg versperrte, war nicht besonders groß, doch schwer, und sein kariertes Hemd spannte sich über dem Kugelbauch. Er stand so dicht vor ihr, dass Panik in ihr aufstieg.
»Entschuldigung«, sagte sie und vermied den Blickkontakt mit dem Betrunkenen.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte er mit beleidigter Stimme. »Ich wollte nur wissen, ob alles klar ist. Mein Freund und ich würden dich gern zu einem Glas einladen.«
»Ich habe mir schon was bestellt. Und außerdem habe ich keine Zeit mehr. Gehen Sie mir bitte aus dem Weg.«
Der dicke Mann machte achselzuckend einen Schritt zur Seite, ließ ihr jedoch nicht viel Platz. Maria zwängte sich an ihm vorbei und unterdrückte ihren Ekel bei dem Gedanken, berührt zu werden. Sie musste die Kneipe so schnell wie möglich verlassen, denn die Szene erregte nicht wenig Aufsehen, und der Wirt erwog anscheinend, zu ihrem Schutz einzugreifen. Hier stimmte nichts: Überwachung bedeutete, dass die Zielperson sichtbar und man selbst unsichtbar war. Maria roch das schale Bier im Atem des Betrunkenen. Er zwinkerte seinem Freund an der Bar zu, und plötzlich fühlte sie seine Hand an ihrem Gesäß.
»Nicht gerade viel …«, sagte er laut und lachte. »Aber es reicht!«
Die Verbindung von Ekel, Hass und Panik ließ Maria durchdrehen.
»Fass mich nicht an!«, schrie sie so wütend, dass sich sein Grinsen in eine schockierte Miene verwandelte. Auch das Gelächter in der Kneipe erstarb. »Du Dreckskerl!«, fauchte sie, und ihr Arm fuhr blitzschnell in die Höhe. An der Wange des dicken Mannes explodierten Glas, Bier und Blut. Er taumelte zur Seite, und Maria, die nun nicht mehr durch den Tisch behindert wurde, rammte ihm ihren schweren Stiefel in den Unterleib. Der Mann krümmte sich, und sie stieß ein schrilles, nicht mehr normales Lachen aus. Niemand in der Kneipe begegnete ihrem Blick. Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Jahren versuchten die ordinären Blondinen, nicht gesehen zu werden. Maria bemerkte, dass der Wirt die Hand nach dem Telefon ausstreckte. Er würde die Polizei anrufen, und vor zwei Minuten war eine Streife vorbeigegangen. Ihr Plan war völlig ruiniert. Marias Wut brandete erneut auf, und sie versetzte dem dicken Mann einen Tritt ins Gesicht. Dann griff sie nach ihrem Mantel und ging auf die Tür zu.
»Ich komme nicht wieder«, versicherte sie dem Wirt. Sie zog den Pullover gerade so weit hoch, dass er einen
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