Jan Fabel 04 - Carneval
eine Geschäftsreise zu machen, denn sie hatte eine Computertasche und einen Aktenkoffer bei sich.«
»Vielen Dank«, sagte Fabel. Er ging zu Marias Wohnungstür hinüber. Frau Franzka beobachtete Anna und ihn noch eine Weile, bevor sie mit den Schultern zuckte und die Tür schloss. Anna hatte ihre Kollektion mitgebracht: einen Drahtkleiderbügel, der zu einem Ring gebogen war und mit den daran hängenden hundert oder mehr Schlüsseln an ein Stammeshalsband erinnerte. Fabel wusste, dass jedes Revier in den Tagen vor Infrarotschlüsseln und Zentralverriegelung eine ähnliche Sammlung für das Öffnen von Autotüren gehabt hatte. Er fragte Anna nicht, weshalb sie es für nötig hielt, ein so wirksames Einbruchswerkzeug zu besitzen, denn er hatte immer geahnt, dass sie manchmal ein wenig zu lax mit den Vorschriften umging. Bisher hatte er so getan, als wisse er nichts von ihrer Kollektion. Nach etwa fünfminütigem Hantieren mit zahllosen Schlüsseln wurde sie durch ein Klicken belohnt. Anna warf Fabel über die Schulter hinweg einen Blick zu.
»Hat Maria eine Alarmanlage?«
»Ich weiß nicht …« Er wirkte einen Moment lang unschlüssig, doch dann nickte er energisch.
Anna zuckte die Achseln und stieß die Tür auf. Ein lautes elektronisches Piepen erscholl von dem Alarmmelder in der Diele.
»Verflucht …«, knurrte sie. Fabel drängte sich an ihr vorbei und tippte eine Ziffernserie in die Tastatur des Geräts ein. Auf dem Display erschien das Wort FEHLERCODE, und das Piepen ging weiter. Er drückte auf den Löschknopf und tippte eine neue Zahlenfolge ein. Stille.
»Ihr Geburtsdatum?«, seufzte Anna.
»Das Datum, an dem sie sich der Polizei Hamburg angeschlossen hat. Ich habe beides in ihrer Akte nachgesehen.«
»Was hättest du getan, wenn keines von beiden geklappt hätte?«
»Dich wegen Einbruchs verhaftet«, erwiderte Fabel und trat in die Diele.
»Du scherzt wahrscheinlich nicht …«
Sie standen in Marias Wohnzimmer. Wie sie erwartet hatten, war es makellos; sorgfältig aufgeräumt und sehr geschmackvoll möbliert. An den weiß gestrichenen Wänden hingen farbenfreudige Bilder. Originale, die, wie Fabel vermutete, von hoffnungsvollen Künstlern kurz vor ihrem Markterfolg stammten. Maria gehörte zu denen, die ihre Wertschätzung der Kunst mit Geschäftssinn verbanden.
»Wusstest du, dass ich Maria mal beneidet habe?«, fragte Anna.
»In welcher Hinsicht?«
»Ich wollte wie sie werden … Elegant, cool, gefasst.«
»Gefasst ist sie nun nicht mehr.«
»Geht es dir denn nie so?«, erkundigte Anna sich, während sie sich Marias CD-Sammlung ansah. »Dass du dir wünscht, jemand anders sein zu können? Wenigstens für eine kurze Zeit?«
»Ich gebe mich weniger philosophischen Gedanken hin als du«, log er mit einem Lächeln.
»Ich habe mich immer für zu impulsiv gehalten. Chaotisch. Maria dagegen war diszipliniert und effektiv. Allerdings …« Sie deutete auf die CD-Sammlung. »Das hier grenzt schon an analfixiert. Guck dir diese CDs an. Alle nach Genre und dann auch noch alphabetisch geordnet. Das Leben ist zu kurz …«
Fabel lachte, hauptsächlich um sein Unbehagen darüber zu verbergen, dass Marias Geschmack und Lebensweise seinen eigenen so sehr ähnelten. Sie überprüften sämtliche Räume, und Fabel fand das, was er nicht hatte finden wollen, im kleinsten der drei Zimmer.
»Scheiße …« Anna pfiff leise durch die Zähne. »Das ist nicht gut. Überhaupt nicht. Schon zwanghaft.«
»Anna …«
»Ich meine, solche Dinge haben wir bei Serienmördern gesehen …«
»Anna … das ist nicht hilfreich.«
Fabel musterte das kleine Zimmer. Die Wände waren mit Fotos, Zeitungsausschnitten und einer Art Europakarte mit daran angebrachten Winkelsteckern und Zetteln bedeckt. Kein Quadratzentimeter schien frei gelassen zu sein. Aber dies war kein Chaos. Fabel konnte vier klar definierte Analysegebiete erkennen: Eines war die Ukraine, ein zweites Witrenkos Lebenslauf, ein drittes der Menschenschmuggel und ein viertes das organisierte Verbrechen in Köln.
»Maria hat ihre Zeit nicht damit verbracht, sich zu erholen«, sagte Anna, »sondern sie hat gearbeitet. Ganz allein.«
»Du irrst dich. Das ist keine Arbeit, sondern eine Vendetta. Maria plant ihre Rache an Witrenko.«
Anna drehte sich zu Fabel um. »Was sollen wir tun?«
»Du nimmst dir den Schreibtisch vor. Ich kümmere mich um den Aktenschrank. Und … die Sache bleibt unter uns, Anna. In Ordnung?«
»Du bist der Chef.«
Fabel und Anna
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