Jan Fabel 04 - Carneval
einem strahlenden, weißen Lächeln, das die Weite des Saales ausfüllte. Die Musik, die sie gewählt hatte, hämmerte hart und rau durch den Raum, und Andrea musste immer wieder daran denken, was für ein dummes, weiches kleines Frauchen sie einmal gewesen war. Aber dies hier war die wirkliche Andrea Sandow. Andrea die Amazone. Jede Pose entlockte der Menge ein Brüllen der Anerkennung. Sie improvisierte eine abschließende Kürpose: Overhead Victory. Ihr Bizeps, der größer war als der aller Konkurrentinnen, wölbte sich hoch und ließ ein sich kräuselndes Muster von Adern und Sehnen erkennen. Die Zuschauer jubelten, und viele sprangen auf.
Andrea ging zum entspannten Stehen über und verbeugte sich tief vor dem Publikum. Sie drehte sich federnd und lief zur Bühnenseite, wo ihre Mitbewerberinnen warteten. Maxine lächelte breit und akzeptierte den Applaus für Andrea mit einem respektvollen Nicken. Nun wusste sie, dass sie gewonnen hatte. All der Schmerz, all die Qualen und Opfer hatten sie zu diesem Punkt geführt. Doch niemand im Publikum wusste, dass sie nicht nur ihre Konkurrentinnen besiegt hatte.
Maxine umarmte sie herzlich und aufrichtig, sobald die Punktrichter ihre Entscheidung bekannt gegeben hatten. Andrea hätte fast geweint, doch natürlich zeigte sie keine Träne. Ihre Mitbewerberinnen gratulierten ihr, aber nur Maxine schien sich wirklich für sie zu freuen. Andrea hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie wäre nicht so großzügig gewesen, wenn ihre Freundin gesiegt hätte.
»Heute Abend besaufen wir uns«, sagte Maxine auf Englisch. »Der Wettbewerb ist vorbei … Eine Woche des Genusses, bevor wir wieder mit der Plackerei anfangen?«
»Der Champagner geht auf meine Kosten«, versprach Andrea, als sie die Garderobe betraten. Dort warteten drei Personen. Sie erkannte Herrn Waldheim, der dem Organisationskomitee der Veranstaltung angehörte.
»Darf ich Ihnen Herrn Dr. Gabriel und seine Mitarbeiterin, Frau Bosbach, vorstellen?«, sagte Waldheim. »Sie sind im Auftrag des Bodybuilding-Verbands hier, um eine routinemäßige Blutuntersuchung vorzunehmen, wenn Sie keine Einwände haben.«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Andrea und merkte, wie ihr Kiefer durch das dauernde Lächeln schmerzte.
7.
Fabel schlug Scholz vor, das Auto stehen zu lassen und sich zu Fuß zur Kirche St. Ursula aufzumachen. Sie lag auf einem kleinen, von Gebäuden umringten Platz. Auf einer Seite war eine Gaststätte. Außerdem befand sich auf dem Platz ein Pfarrhaus, das sich an die Kirche drängte.
»Wo wurde Sabine Jordanski gefunden?«, fragte Fabel.
»Dort drüben, hinter der Kirche.«
Fabel und die anderen folgten Scholz um die Kirche herum. Ebenso wie im Fall von Melissa Schenker war dieser Tatort der Sicht entzogen. Eine weitere Todesfalle.
»Wo hat sie gewohnt?«
»Um die Ecke am Gereonswall.« Scholz deutete auf die Straße vor ihnen.
»Irgendwas stimmt hier nicht …« Fabel schaute zurück in Richtung Stadt.
»Was denn nicht?«, fragte Scholz.
»Ich bin überzeugt, dass der Täter seinen Opfern auflauert. Aber die Kirche liegt auf der falschen Seite. Sabine wäre hier normalerweise nicht vorbeigekommen.«
Scholz lächelte düster. »Sie war auf dem Rückweg mit Freundinnen zusammen. Dann haben sie sich getrennt und sind nach Hause gegangen. Selbst wenn Sabine hier vorbeigekommen wäre, hätte der Mörder sie nicht schnappen können. Es gab Zeuginnen.«
»Dann muss er sie entweder überredet oder gezwungen haben, diesen Weg einzuschlagen.«
»Scheint so.«
»Also könnte diese Kirche vielleicht doch eine besondere Bedeutung haben. Wir haben keine Spur eines sexuellen Kontaktes?«, fragte Fabel, obwohl er die Antwort kannte.
»Nein«, bestätigte Tansu. »Kein Sperma, kein Hinweis auf eine Vergewaltigung.«
Die vier Kriminalbeamten starrten auf den zweiten Mordschauplatz. Inzwischen begann Fabel, die Dynamik dieses kleinen Teams zu durchschauen: Scholz tat so, als wäre er nicht der Vorgesetzte, Kris und Tansu nannten ihn Benni und nie Chef, doch er hatte seine Leute wahrscheinlich an einem kürzeren Zügel als Fabel. Kris war der Lehrling, der stillschweigend die von Scholz ausgestreuten Perlen der Weisheit sammelte. Tansu war willensstark und intelligent, doch noch nicht selbstständig genug, um Scholz herauszufordern. Offensichtlich wollte er Tansus Theorie über das Vergewaltigungsopfer von 1999 nicht akzeptieren. Fabel dagegen hielt ihre Argumentation für einleuchtend.
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