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Jan Fabel 05 - Walküre

Titel: Jan Fabel 05 - Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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dachte an den Mann neben sich. Der falsche Onkel Georg hatte sie wahrscheinlich gemustert, als sie an ihm vorbeiging, aber sie hatte das Gesicht wie zu einem Blick über die Wasseroberfläche abgewandt. Nur der Mann an ihrem Arm dürfte sie aus nächster Nähe gesehen haben. Wenn sie Pöseldorf erreichte, würde sie ihn in eine Nebenstraße führen. Da ihre Waffe kei­nen Schalldämpfer hatte, würde sie ihn mit dem Messer erle­digen.
    Wenn sie Pöseldorf erreichte.
    Ein paar Sekunden vorher waren sie an einem Wagen des Tiefbauamts vorbeigegangen. Eine Gruppe Arbeiter hatte es sich daneben bequem gemacht. Sie hätte auflachen können. Um den Schein zu wahren, hätte man wenigstens einen älteren oder übergewichtigen Polizisten mit heranziehen können. Die Arbeiter rochen förmlich nach einer Spezialeinheit. Nach dem MEK der Polizei Hamburg. Es waren sechs Männer, die unter ihren Overalls bestimmt kugelsichere Westen trugen. Anke wusste, dass sie schnell waren und bei einer langen Verfolgung mit ihr Schritt halten konnten. Um vom Mobilen Einsatzkom­mando der Polizei Hamburg aufgenommen zu werden, musste man dreitausend Meter in weniger als dreizehn Minuten und dreißig Sekunden zurücklegen können. Aber die kugelsicheren Westen würden sie behindern. Beine und Kopf. Wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, würde sie auf Beine und Kopf zie­len. Die Polizisten hatten einen gewaltigen Vorteil, was Zahl und Ausrüstung anging, aber Ankes Trumpf war, dass sie streng nach Vorschrift handeln würden. Nach Schema F.
    Fabel beobachtete sie und zögerte - davon war sie überzeugt. Jede Sekunde des Zögerns ließ sie näher an die Stadt, die Stra­ßen und Menschen herankommen. Wenn sie erst einmal dort war, konnte sie fliehen. Falls man sie verfolgte, würde sie größt­mögliches Unheil anrichten und die Polizisten in einer Flut toter Passanten hinter sich lassen.
    Das Polycarbonatmesser. Die Beretta. Drei Reservemaga­zine mit jeweils vierzehn Patronen in ihrer Umhängetasche.
    Sie konnte zur Alsterchaussee hinaufblicken. Wichtig war, nichts zu überstürzen. Sie blieb ruhig und hielt die Geisel un­verändert fest. Gleich war sie dort. Er würde es nicht riskieren. Fabel würde es nicht riskieren.
    Onkel Georg. Sie hatten Onkel Georg.
    Dann begriff Anke: Sie hatten Onkel Georg nicht, sondern er war tot. Sie horchte tief in sich hinein, um etwas zu spüren. Aber sie fühlte kaum etwas.
    Sie dachte an ihre gemeinsamen Gespräche. An die Zeit, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war und er ihr alles beigebracht hatte, was sie beherrschte. Sie erinnerte sich, wie sie zu viert an einem Sommertag im Gras vor der Ausbildungsanstalt gesessen hatten. Die Sonne hatte Anke auf den Nacken gebrannt. Sie er­innerte sich an den kühlen Orangensaft, den sie getrunken hat­ten, und an die wenigen Momente, in denen Onkel Georg, Liane, Margarethe und sie über alberne, belanglose Dinge ge­plaudert hatten.
    »Dies ist ein goldener Augenblick«, hatte Onkel Georg er­klärt. »Genießt solche Augenblicke zwischen den Treffen. Kos­tet sie aus.«
    Und in jenem goldenen Moment hatte sie wahrhaftig das Gefühl gehabt, dass die anderen ihre Schwestern waren und dass Onkel Georg ihr wirklicher Onkel sein könnte. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von einem unbekannten Leben er­halten. Es war eine perfekte, goldene Lüge für einen perfekten, goldenen Augenblick gewesen. Doch sogar in jener Lüge hatte sie erfahren, wie man sich als Teil einer Familie fühlen mochte.
    Und nun war Onkel Georg tot.
    Für eine Sekunde verspürte sie mitten im frostigen Hambur­ger Winter die Wärme jenes längst vergangenen Sommernach­mittags. Und jetzt empfand sie den Schmerz, den Kummer, nach dem sie in ihrem Innern gesucht hatte.
    Plötzlich hörte Anke, dass jemand von hinten auf sie zulief und rief, sie solle die Geisel loslassen und stehen bleiben.
    Fabel hatte es also doch riskiert.
     

Siebtes Kapitel
     

1.
     
    Anke Wollner wirbelte herum und hielt ihren Gefangenen wie einen Schild vor sich. Sie wusste natürlich, dass ihr noch andere MEK-Leute und Kriminalbeamte auf den Fersen sein würden, aber die Hauptgefahr kam nun von vorn. Die sechs MEK-Männer hatten sich in drei Zweierteams aufgeteilt. Die Standardfor­mation, streng nach Vorschrift.
    Die als Joggerin verkleidete Frau rief erneut, sie solle stehen bleiben. Anke feuerte zwei Schüsse ab und traf sie in beide Beine. Die Frau schrie auf und stürzte zu Boden. Anke zielte auf ihren Kopf,

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