Jan Fabel 05 - Walküre
Hochzeit war ich nie mit einem anderen Mann zusammen. Eines Abends bin ich zum Kiez gefahren - nur, um ihn mir anzusehen. Warum, weiß ich nicht. Ich wollte herausfinden, was sich da abspielt. Was für Personen sich hier herumtreiben. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe eine Bar betreten, und ein Mann ... Mit ihm habe ich es gemacht.«
»Wo?«
»In seinem Auto.« Die Schluchzer zwischen ihren Aussagen waren nun zu leisen Krämpfen geworden.
»Ich sehe den Grund immer noch nicht«, erwiderte Fabel. »Warum lassen Sie sich auf so etwas ein?«
»Das können Sie nicht verstehen. Kein Mann kann das. Ich habe es wegen der Erregung getan. Um benötigt und begehrt zu werden.«
»Habt ihr das mitgekriegt?«, fragte Fabel, als er Anna und Werner auf dem Flur traf. Sie hatten die Vernehmung per Video im Nachbarzimmer verfolgt.
»Hm«, meinte Werner. »Es ist komisch. - Glaubst du ihr?«
»Es gibt absolut keine Möglichkeit, dass sie das Messer vor ihrer Verhaftung weggeworfen hat?«
»Das hat sie bestimmt nicht«, versicherte Anna. »Sie war dauernd in Werners Blickfeld, und wir haben sie nach der Verhaftung gründlich durchsucht. Ohne Erfolg. Und sie hat auch nichts fallen lassen oder weggeworfen.«
Fabel schüttelte den Kopf. »Manchmal könnte ich verzweifeln. Behaltet sie hier und überprüft ihr Alibi für die letzte Woche bei ihrem Mann. Und versucht ... wie soll ich es ausdrücken ... diplomatisch zu sein.«
»Na klar«, spottete Anna. »Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er Catherine Deneuve in Belle de Jour gesehen hat. Das ist kein Witz, Chef, denn wie soll man jemandem auf diplomatische Art mitteilen, dass seine Frau als Nutte schwarzgearbeitet hat? Und übrigens, keine Sorge, es liegt nicht daran, dass sie mit ihrem Haushaltsgeld nicht auskommt. Sie macht es nur, weil sie Schwänze liebt.«
»Anna hat nicht ganz unrecht«, meinte Werner. »Diese Pille lässt sich nicht versüßen.«
»Konzentriert euch einfach auf die Tatsache, dass sie bei einem Schwerverbrechen als Verdächtige gilt und dass ihr Verbleib an dem betreffenden Abend geklärt werden muss. Die Einzelheiten kann sie selbst erläutern.«
»Okay, Chef.«
Fabel ging in sein Büro und rief seine E-Mails ab. Van Heiden erinnerte ihn daran, dass Politidirektor Vestergaard in zwei Tagen wegen des toten dänischen Polizisten Jespersen einfliegen werde. Der Kriminaldirektor hatte es sich nicht nehmen lassen, auch die Ankunftszeit des Fluges zu nennen.
»Als hätte ich nichts Besseres zu tun«, knurrte Fabel. Zwar war er gern bereit, mit Jespersens Vorgesetztem zu reden, aber da er bis zum Hals in einem wichtigen Mordfall steckte, hätte van Heiden wenigstens die Abholung anders organisieren können.
Er schaute auf seine Uhr. 2.30 Uhr. Er würde jetzt nach Hause fahren, vier oder fünf Stunden schlafen und dann ins Präsidium zurückkehren. Fabel gähnte. Allmählich wurde er zu alt für dieses Geschäft. Er dachte an Viola Dahlke, die möglicherweise hellwach und ängstlich in ihrer Zelle liegen und darüber grübeln würde, wie sich jede Faser ihres bisherigen Lebens auflöste. Was hatte sie sich bloß gedacht? Es stimmte: Er konnte sie nicht verstehen, genauso wenig wie er verstand, warum so viele Menschen, denen er in seiner Laufbahn begegnet war, so erstaunliche Taten begangen hatten. Die menschliche Sexualität war ein Rätsel. Zahlreiche Morde, die er untersucht hatte, enthielten ungewöhnliche sexuelle Elemente, und Fabel hatte im Laufe der Jahre einige dunkle und stürmische Meere befahren müssen. Zuweilen hatte er tatsächlich den Eindruck, dass Frauen für ihn immer noch von einem unbekannten Kontinent stammten.
Er nahm seine englische Tweedjacke von der Stuhllehne und zog seinen Regenmantel vom Kleiderständer. Auf dem Weg zur Tür wartete er fast darauf, dass das Telefon klingeln würde.
Und es klingelte tatsächlich.
6.
Wenn man seinen Beruf bedachte, war es merkwürdig, dass sich Fabel nie ganz mit der plötzlichen Auslöschung von Menschenleben abfinden konnte. Er hatte gehört, dass Astronauten, wenn sie im Weltraum auf den Planeten Erde zurückblicken, in jenem Moment entweder den Glauben an Gott verloren oder ganz und gar von seiner Existenz überzeugt seien. Dazwischen gab es nichts.
Unabhängig davon, ob die Dinge in der Realität wirklich so absolut waren, konnte Fabel diese Erfahrung verstehen. Er hatte jedes Mal, wenn er mit einem Toten konfrontiert war, ähnliche
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