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Jan Fabel 05 - Walküre

Titel: Jan Fabel 05 - Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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zu fahren. Stattdessen nahm sie in Altona die S-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof und stieg dann in den funkelnden neuen ICE, der die beiden größten Städte Deutschlands mit­einander verbindet.
    Die Reise dauerte etwas mehr als anderthalb Stunden. Es war immer noch hell und kalt, und Sylvie beobachtete, wie die flache norddeutsche Landschaft vorbeiglitt. Hin und wieder überflog sie ihre Notizen.
    Ähnlich wie der Zug, den sie gerade benutzt hatte, war der Berliner Hauptbahnhof ein Versprechen für die Zukunft. Nach nur zwei Jahren hatte sich der Bahnhof bereits zu einem wich­tigen Berliner Wahrzeichen entwickelt. Hier verbanden sich Metall und Glas in monumentalem Maßstab miteinander, und hier wurde der Welt deutlich verkündet, dass dies der Kern eines neuen Europa war. Sylvie durchquerte die Halle und näherte sich dem Taxistand.
    »Wohin, Kindchen?«, fragte der Fahrer mit breitem Berliner Dialekt.
    »Zur Birthler-Behörde.«
    »Woll'n sich wohl Ihre Akte ankieken, Kindchen?«
    Mit »Birthler-Behörde« oder BStU wurde die Zentrale einer Organisation bezeichnet, die unzweifelhaft einer Abkürzung bedurfte: die Behörde der Bundesbeauftragten für die Unter­lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Die Abkürzung beruhte auf dem Namen der Bundesbeauftragten, Marianne Birthler.
    In nur fünfzehn Minuten gelangte Sylvie Achtenhagen zur Birthler-Behörde, und nachdem sie weitere zehn Minuten ge­wartet hatte, erschien ein hagerer Mann von Anfang fünfzig, der sie begrüßte und sich als Max Wengert vorstellte. Er arbei­tete für die Abteilung, die für Medienanfragen nach Zugang zu den Akten zuständig war. Sylvie, ein vom Fernsehen vertrautes Gesicht, war es gewohnt, dass Menschen nicht unbedingt nor­mal auf sie reagierten. Wengerts breites Grinsen schien zu ver­raten, dass er nicht sehr häufig lächelte. In ihm erkannte Sylvie jemanden, den sie wahrscheinlich veranlassen konnte, mehr preiszugeben, als es für ihn ratsam war.
    »Es ist überaus freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mir zu helfen, Herr Wengert.« Sie lächelte charmant, während er sie in ein Beratungszimmer führte. »Noch dazu per­sönlich.«
    »Ich muss gestehen, dass ich ein Fan von Ihnen bin.« Er verzog erneut das Gesicht und entblößte von Tabak verfärbte Zähne. Sylvie malte sich aus, wie er allein in einer winzigen Berliner Wohnung saß und sie auf dem Fernseher betrachtete. Ihre Fantasie ging ein wenig mit ihr durch, und sie verspürte einen Schauder des Ekels. Aber sie ließ sich nichts anmerken.
    »Haben Sie etwas über den Namen herausfinden können, den ich Ihnen genannt habe ... Georg Drescher?«, fragte sie.
    Wengert zog den Stuhl unter dem Tisch des Beratungszim­mers hervor und forderte Sylvie auf, sich zu setzen. Sein langes, graues Gesicht nahm einen verschwörerischen Ausdruck an.
    »Wissen Sie, Frau Achtenhagen, es ist ein erstaunlicher Zu­fall ... Sie sind in dieser Woche schon die zweite Person, die sich nach dem Namen erkundigt.«
    »Tatsächlich? Woher stammt die erste Nachfrage? Von einem anderen Sender oder einer Zeitung?«
    »Weder noch.« Er wirkte einen Moment lang unsicher. »Ach, es schadet wohl nicht, wenn ich es Ihnen sage. Es war keine Medienanfrage, sondern ein Ersuchen der Polizei. Der Polizei Hamburg.«
    »So, so«, sagte Sylvie. »Hat man erwähnt, woher das Inte­resse an Drescher rührt?«
    »Nein. Ich konnte nicht behilflich sein. Und leider kann ich auch Ihnen nicht helfen. Wir wissen aus anderen Unterlagen, dass er existiert hat, aber von Major Georg Drescher gibt es keine auffindbare persönliche Akte. Auch können wir kein an­deres nennenswertes Dokument entdecken, in dem von ihm oder seiner Tätigkeit die Rede ist. Er wird nur in unbedeutenden Akten erwähnt, und auch dort, manchmal buchstäblich, ledig­lich in einer Fußnote.«
    »Ist das nicht ... na ja ... seltsam?«
    »Durchaus nicht, Frau Achtenhagen. Die Stasi hatte Un­mengen von Akten. Millionen. Jeder Bericht von Inoffiziellen Mitarbeitern wurde niedergeschrieben, in ein Verzeichnis auf­genommen und abgeheftet. Nehmen wir die persönlichen Ak­ten von Individuen - es gibt sechs Millionen davon. Bei was für einer Gesamtbevölkerung? Sechzehn Millionen? Das bedeutet, dass sich hier viel Belangloses verbirgt.
    Aber die wichtigen Sachen, die großen Geheimnisse? - Eine Menge davon wurde geschreddert oder entfernt. Gegen Ende neunundachtzig, Anfang neunzig sah die Stasi die

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