Jan Fabel 05 - Walküre
Zeichen an der Wand - oder an der Mauer, wenn Sie mir den kleinen Scherz verzeihen -, und außerdem warteten Tausende von Bürgerrechtlern darauf, das Gebäude einzureißen und die Akten in die Hände zu bekommen. Das geschah am 15. Januar. Ich vermute, dass in der Stasi-Zentrale in den Tagen und Stunden, bevor die Protestler eindrangen, Chaos geherrscht hat. Dann wurde die Vernichtung der Akten eingestellt, aber einen großen Teil des Belastungsmaterials hatte man bereits in den Reißwolf geworfen. Wir haben fast siebzehntausend Säcke mit annähernd 50 Millionen geschredderten Seiten geborgen. Und wir versuchen immer noch, sie zusammenzusetzen.
Aber das ist noch nicht alles. Unter den Bürgerrechtlern, die in die Zentrale eindrangen, waren Mitglieder der amerikanischen CIA, die bei einigen der vertraulichsten Informationen zulangten. Ihnen ging es darum, Verzeichnisse von Agenten, die im Westen arbeiteten, in die Finger zu bekommen. Außerdem befanden sich unter den Protestlern wahrscheinlich etliche Stasi-Agenten und -Spitzel, die sich in den Besitz ihrer eigenen Akten bringen wollten, bevor andere es taten.«
»Und Sie glauben, dass das auch mit Dreschers Akten passiert ist?«, fragte Sylvie. »Dass es ihm gelang, seine Existenz aus den Unterlagen zu tilgen?«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wir versuchen immer noch, die geschredderten oder mit der Hand zerrissenen Unterlagen erneut zusammenzufügen. Erst im letzten Jahr haben wir eine Software entwickelt, mit der man die Seiten digital zusammensetzen und so den ganzen Vorgang beschleunigen kann. Aber auch damit werden wir bis 2013 brauchen. Sie können jedoch sicher sein, dass sich vorher schon ein paar üble Überraschungen ergeben werden. Viele frühere Stasi-Agenten und -Spitzel werden nicht sehr ruhig schlafen, davon bin ich überzeugt. Vielleicht sind Dreschers Akten hier bei uns und warten darauf, zusammengefügt zu werden.«
»Falls sie tatsächlich hier sind ...« Sylvie stieß einen langen Seufzer der Enttäuschung aus.
»Da ist noch etwas anderes.« Wengert beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sie wissen, dass die BStU vom Bundesarchiv übernommen werden soll? Wegen des Berichts der Untersuchungskommission von Hans Hugo Klein. Er hat nachgewiesen, in welchem Maße die BStU von ehemaligen Stasi-Angehörigen infiltriert worden ist. Von Leuten, die vielleicht hier arbeiten, um die Akten, die wir schützen und wiederherstellen sollen, verschwinden zu lassen oder zu vernichten.«
»Drescher könnte also einen Freund in der Behörde haben?«
Wengert zuckte die Achseln. »Wer weiß? Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«
»Was ist mit den anderen Namen, die ich Ihnen genannt habe?«
»Mmm, solche Informationen darf ich nicht preisgeben, es sei denn, dass ein Zusammenhang zu Ihrer persönlichen Akte besteht, falls eine bei uns vorliegt. Oder dass es nachweislich von öffentlichem Interesse ist.«
»Herr Wengert ...« Sylvie lächelte den Beamten an, und er schmolz dahin. Männer waren so leicht zu beeinflussen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie einer der Bürgerrechtler waren, die an dem Sturm auf die Bastille in Lichtenberg teilnahmen?«
Wengert strahlte vor Stolz. »Ja, ich war einer der Teilnehmer.«
»Dann sind Sie offensichtlich ein Mann, der sich für das einsetzt, was richtig und wahr ist. Sie haben doch selbst gesagt, dass es hier wahrscheinlich von ehemaligen Stasi-Halunken wimmelt. Wie können wir zur Wahrheit vordringen, wenn wir uns an die Vorschrift halten und die anderen nicht? Ich verspreche Ihnen, dass die Personen auf der Liste, die ich Ihnen geschickt habe, nicht diejenigen sind, die ich entlarven will. Ich möchte nur mit ihnen reden, das ist alles. Vielleicht führen sie mich zu Drescher. Und der ist jemand, an dem wir interessiert sein sollten. Ich bitte Sie nicht, gegen Ihre Moral zu verstoßen, sondern ich fordere Sie auf, für Ihre Moral zu kämpfen.«
Wengert musterte Sylvie. Hinter seinen trüben Augen schien sich ein innerer Konflikt abzuspielen. Er stand entschlossen auf.
»Bitte, warten Sie einen Moment«, sagte er und verließ das Zimmer.
4.
Fabel hatte Karin Vestergaard an ihrem Hotel abgesetzt, damit sie sich frisch machen konnte. Er plante, sie zu benachrichtigen, sobald er wusste, wo Jespersen zu Mittag gegessen hatte oder ob ein Verfolger gesichtet worden war. Er schien Fortschritte zu machen, doch das Gefühl, auf der falschen
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