Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Susanne hat sich schon auf der ganzen Fahrt zum Flughafen über mein Auto ausgelassen.«
»Wirklich? Ich persönlich mag Antiquitäten. Davon abgesehen hat Susanne einen guten Einfluss auf dich. Du bist heutzutage weniger grantig. Ans Werk?«
Sie bahnten sich einen Weg zum weißen Spurensicherungszelt, traten über Rohre und Schläuche hinweg und wichen dabei den dunklen Regenbogenpfützen aus Öl und Wasser und dem schwarzen Strandgutgewirr aus, das die Flut angeschwemmt hatte.
»Ich hatte schon das Vergnügen«, sagte Anna, als sie das Zelt erreichten. »Wenn es dir nichts ausmacht, warte ich hier auf dich.«
Fabel nickte. Anna war zäh und hatte die Überreste etlicher gewaltsamer Todesfälle gesehen, doch ihre Achillessehne war die Betrachtung von übel zugerichteten Leichen. Und Fabel wusste, dass nichts übler zugerichtet ist als ein Mensch, der länger als ein paar Tage im Wasser gelegen hat. Dort beschleunigt sich der Verwesungsprozess stark: Das Fleisch wird weich, und der Körper schwillt durch die eingefangenen Gase an, sodass er wie eine verfaulende Boje an der Oberfläche auf und ab hüpft.
Vor dem Zelt war ein Tisch mit Spurensicherungsutensilien aufgestellt. Anna reichte Fabel einen weißen Papieranzug, Latexhandschuhe, blaue, dehnbare Überschuhe und eine Atemschutzmaske. Dann zog sie einen Parfümzerstäuber aus der Jackentasche und besprühte das Innere der Maske.
»Das wirst du benötigen«, sagte sie. »Diese hier ist überreif. Und mach den Overall bloß nicht auf. Wenn der Gestank erst mal an deiner Kleidung haftet, wirst du ihn nie wieder los.«
»Das ist nicht meine erste Wasserleiche, Anna. Ich weiß, wie man vorgeht.« Fabel lächelte, denn er hatte bemerkt, dass Annas Gesicht noch blasser geworden war. Vermutlich erinnerte sie sich an ihren eigenen Aufenthalt in dem Zelt.
Er schaute zum Himmel hinauf, der nach dem Sturm immer noch grau war, und betrachtete das Sanierungsgelände mit seinem provisorischen Dorf aus Generatoren, Kränen, Lastwagen und Feuerwehrfahrzeugen. Er atmete tief durch und versuchte, ein paar Takte aus From Gagarin’s Point of View heraufzubeschwören, um das Flattern in seiner Brust abzuschwächen. Dann stülpte er sich die stark parfümierte Maske über Nase und Mund und betrat das weiße Spurensicherungszelt.
Trotz der Maske und des Parfümduftes setzte ihm der Gestank sofort zu. Es gab keinen anderen derartigen Geruch auf der Welt: zugleich ranzig und sauer und widerlich süß. Fabel war ihm bei zwei anderen aus dem Wasser geborgenen Toten und einer bereits geschwärzten Leiche begegnet, die man in den Wäldern gefunden hatte. Schwarz war das vierte Stadium der Fäulnis, zwischen zehn und zwanzig Tage nach dem Tod. Und es war das mit dem schlimmsten Gestank. Obwohl ein Absauggebläse auf hohen Touren arbeitete, war die Luft im Zelt mit den Ausdünstungen des verwesenden Fleisches gesättigt.
Fabel fragte sich häufig, wie die Hamburger Hafenpolizei mit so vielen Wasserleichen fertig wurde. Es gab eine Trennungslinie der Zuständigkeit für aufgefundene Leichen zwischen der Hafenpolizei und der Polizei Hamburg: das Hochwasserzeichen. Für Tote oberhalb des Zeichens war die Stadtpolizei, für solche unterhalb des Zeichens die Hafenpolizei zuständig. Gerüchten zufolge wurden etliche am Strand angeschwemmte Leichen vom Stiefel eines zimperlichen Schutzpolizisten angestoßen, sodass sie unter die Hochwassermarke und damit in die Zuständigkeit der Hafenpolizei rollten.
»Hallo, Jan, wie geht’s?« Holger Brauner war ein kurz geratener, kräftig gebauter Mann in den Vierzigern. Der Spurensicherungschef der Polizei Hamburg begrüßte Fabel vergnügt hinter seiner Schutzmaske. Brauner schien von unverwüstlichem Frohsinn erfüllt zu sein. Fabel und er waren seit Jahren befreundet, und der Hauptkommissar hatte es nie geschafft, Holgers Lebensfreude mit dessen grimmigem Beruf in Einklang zu bringen.
Fabel antwortete nicht sogleich. All seine Aufmerksamkeit galt dem Bemühen, sich nicht zu erbrechen. Die Quelle des Geruchs lag auf dem feuchten Asphalt. Ein Rumpf mit gerunzelter Haut, teils grünlich-schwarz, teils lila und grünlich-weiß. Kopf, Arme und Beine fehlten. An den Amputationsstellen war das Fleisch faltig und aufgequollen; es wirkte ekelerregend rosig und roh. Der Rumpf schien einer krankhaft fettleibigen Person zu gehören, denn der Bauch war straff gespannt, und die Brüste hingen zu beiden Seite über, doch Fabel wusste, dass es der Druck der
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