Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Versprechen, das er Müller-Voigt gegeben hatte. Aus irgendeinem anderen Grund hatte er das Gefühl, die Sache wenigstens vorläufig für sich behalten zu müssen. Nachdem van Heiden verschwunden war, überwachte Fabel die Tatortbearbeitung, wie er es im Lauf der Jahre so oft getan hatte. Holger Brauner traf mit seinem Team ein, untersuchte die Leiche mit seinem wie gewohnt unpassenden Frohsinn, fixierte sämtliche Fremdkörper an der Haut des Opfers mit Spezialklebestreifen, stellte nummerierte Zeltkarten auf, machte Fotos, zog den Reißverschluss an einem schwarzen Veloursack zu, in den die Leiche der jungen Frau gelegt worden war, und ließ ihn vom Fundort wegbringen. Die Schutzpolizisten hielten die wachsende Menge von Gaffern in Schach. Thomas Glasmacher und Dirk Hechtner erschienen, nahmen die Aussage des Anglers zu Protokoll und begannen eine Tür-zu-Tür-Befragung in der nächsten Umgebung.
Es war die sorgfältig einstudierte Choreografie des Beginns einer neuen Mordermittlung, und Fabel inszenierte den Tanz in dem grauen Nieselregen. Kein Horror diesmal, keine Zerstückelung, kein Verwesungsgestank. Nur die Traurigkeit über den Verlust eines jungen Lebens.
Noch etwas, an das Fabel sich nie gewöhnt hatte.
18.
Fabel traf gerade rechtzeitig im Präsidium ein, um den Beginn von Annas Einsatzbesprechung mitzuhören. Werner und er hatten Glasmacher und Hechtner zur Abwicklung der Arbeiten am Fundort zurückgelassen.
Auch Henk Herrmann war gerade zum Besprechungszimmer unterwegs. »Hallo, Chef«, sagte er, als Fabel sich näherte. »Ich habe die Adresse beim Wohnungsamt überprüft. Dort ist keine Meliha Yazar als Mieterin verzeichnet, und die Wohnung steht erst seit einem Monat leer. Wenn die Frau existiert, hat sie sich woanders aufgehalten.«
»Sie existiert ganz bestimmt«, erwiderte Fabel. »Also fragt sich, wo sie dann gewohnt hat. Trotzdem vielen Dank, Henk.«
»Übrigens, du erinnerst dich an die Wasserleiche am Fischmarkt – den Rumpf?«
»Was ist damit?«
»Ich wusste nicht, dass Schleswig-Holstein auch ein Interesse daran hat. Was haben die mit dem Fall zu tun?«
»Henk«, sagte Fabel ungeduldig und blickte durch die geöffnete Tür des Konferenzzimmers, das sich bereits mit Beamten füllte, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest.«
»Jemand von der Polizei Schleswig-Holstein – Direktion Kiel, glaube ich – war in der Pathologie, um sich die Unbekannte anzusehen. Ein Kommissar … Ein Kommissar Höner, wenn ich mich nicht irre. Er hat seinen Ausweis vorgezeigt und behauptet, es mit dir geklärt zu haben.«
Fabel starrte Henk einen Moment lang an, während er die Information verarbeitete. »Beschaff sofort eine Beschreibung von ihm oder besser noch eine Kopie von der Videoüberwachung. Ich habe niemandem erlaubt, sich die Leiche anzusehen, weder aus Schleswig-Holstein noch sonst woher.«
Als Fabel das Besprechungszimmer der Mordkommission betrat, war der Raum voll von Schutzpolizisten und Kriminalbeamten, und Anna verteilte Adressen an die verschiedenen Teams.
»Ich dachte, du könntest noch ein paar Leute gebrauchen«, sagte Fabel zu Anna. »Aber es ist dein Bier.« Er wandte sich an die übrigen Polizisten. »Der Fall weitet sich aus. Wir haben noch eine Leiche gefunden. Und die sieht wirklich so aus, als hätte der Network-Killer sie auf dem Gewissen.«
Ein allgemeines Stöhnen.
»Okay, okay …«, rief Anna in die Menge. »Wenn wir ein weiteres Opfer haben, werden wir unter noch größerem Druck stehen, den Kerl zu finden. Vier Adressen sind von speziellem Interesse für uns. Es sind nicht diejenigen Männer, die wir uns ursprünglich vornehmen wollten …«
»Oh?«, unterbrach Fabel.
»Hauptkommissar Kroeger hat sich wieder gemeldet«, erklärte Anna. »Sein Team beschäftigt sich immer noch mit den Computern und Handys der Opfer, und es hat Bruchstücke von Gesprächen mit vier Männern rekonstruieren können, die mit allen Kontakt hatten. Und zwar über eine einzige Website. Eigentlich ist es mehr als eine Website …«
»Was meinst du damit?«
»Du hast bestimmt von diesen seltsamen Sites gehört, auf denen Menschen so etwas wie eine alternative Existenz führen, ein virtuelles Leben. Bewirtschafte einen Bauernhof ohne den Geruch, bau dir ein Geschäftsimperium in einer fiktionalen Welt auf – und ähnlicher Blödsinn.«
»Ich habe davon gehört, ja«, antwortete Fabel. Er konnte nicht verstehen, warum jemand seine Zeit damit
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