Jan Fabel 06 - Tiefenangst
verschwendete, in einer Fiktion zu leben.
»Also, diese heißt ›Virtual Dimension‹. Sie ist teils eine Social Networking Site und teils eine in Echtzeit funktionierende Virtual Life Site. Angeblich ist sie in der Lage, Realitäten zusammenzuführen .«
»Was zum Teufel bedeutet das? Warum können diese Leute kein verständliches Deutsch sprechen?«
Anna zuckte die Achseln, als wolle sie andeuten, dass Fabel nicht die Überbringerin der Botschaft erschießen solle. »Laut der Website von Virtual Dimension wird diese verrückte virtuelle Welt mit der realen Welt verschmolzen. Wie genau, weiß ich nicht. Das alles klingt ziemlich bekloppt. Jedenfalls haben sich mindestens zwei der ermordeten Frauen mit einer Reihe von Männern – wenn es denn im realen Leben tatsächlich Männer sind – auf Virtual Dimension in Verbindung gesetzt, und von diesen Männern haben vier auch anderswo Chatroom-Gespräche mit einem der anderen Opfer geführt.«
»Mmm …« Fabel nickte nachdenklich. »Das klingt vielversprechend.«
»Ach ja. … Apropos virtuelle Realitäten. Der Feuerwehrmann, den wir bei der angeschwemmten Leiche getroffen haben, sucht nach dir.«
»Kreysig?«
»Nein, der andere, sein Stellvertreter Tramberger. Er möchte wissen, ob wir immer noch wollen, dass er die Daten in sein Computermodell ›Virtuelle Elbe‹ eingibt.«
»Das kann nicht schaden. Lass dir doch von Holger Brauner das Gewicht der Leiche geben. Und die Zeit, die sie seiner Schätzung nach im Wasser gelegen hat. Schick das rüber zu Tramberger und sieh zu, was er damit anfangen kann.«
»Das wird ihn bei Laune halten. Er ist sehr stolz auf sein Spielzeug. Komisch, er macht gar nicht den Eindruck eines Computerfreaks.«
»Wer ist denn heute keiner? Noch etwas?«
»Ja. Ich habe ein paar Erkundigungen über das Pharos-Projekt eingezogen und warte noch auf Antworten. Aber vorläufig habe ich alle Hände voll damit zu tun, diese Razzien zu organisieren. Du sagst, du hättest nichts dagegen, eine zu übernehmen?«
»Okay. Welche denn?«
Anna reichte Fabel eine Akte und einen Durchsuchungsbefehl von der Hamburger Staatsanwaltschaft. »Es ist eine Adresse draußen in Billstedt, zwischen Horn und Schiffbek. Sie gehört einem gewissen Johann Reisch.«
»Wenn er die Rechnungen bezahlt, heißt das noch nicht, dass er der Einzige ist, der den Computer benutzt.«
Anna schüttelte den Kopf. »Laut unseren Vorermittlungen ist Johann Reisch, fünfundvierzig, der einzige Bewohner der betreffenden Wohnung. Und das …«, sie hielt Fabel den Ausdruck einer Internetseite hin, »… ist seine Online-Identität.« Fabel betrachtete das Bild. Ein junger Mann, der zwei Jahrzehnte von seinem fünfundvierzigsten Geburtstag entfernt war. Er trug eine Sonnenbrille, sein muskulöser Oberkörper war sommerlich nackt, und er lächelte unter einer ausländischen Sonne in die Kamera. Auf der Seite stand der Name Thorsten66. »Also, übernimmst du die Sache?«
»Okay.« Fabel griff nach den Unterlagen. »Du bist die Chefin.«
Schiffbek liegt östlich des Stadtzentrums. Die Adresse, die Fabel und Werner von Anna erhalten hatten, befand sich in einer makellos gepflegten Straße aus Reihenhäusern in der Nähe des Friedhofs.
Fabel parkte am Ende der Straße und bedeutete der Streifenwagenbesatzung, hinter ihm zu halten. Es war nicht ratsam, ihre Gegenwart im Voraus anzuzeigen. Die beiden Schutzpolizisten folgten Fabel und Werner zum Haus. Fabel bemerkte, dass der winzige Vorgarten in gutem Zustand war, doch nur ein Minimum an Pflanzen enthielt, als solle er so pflegeleicht wie möglich sein.
Werner klingelte. Eine kleine Frau mit stacheligem blondem Haar öffnete die Tür. Sie trug eine Brille und ein Identitätsschild an der Kittelschürze über ihrer Kleidung, das sie als staatlich geprüfte Pflegekraft auswies. Sie schaute mit einem deutlichen Mangel an Interesse von Fabel zu Werner und dann zu den uniformierten Beamten.
»Ja bitte?«
»Polizei Hamburg«, sagte Fabel. »Wir haben einen Befehl zur Durchsuchung dieses Gebäudes und zur Vernehmung von Herrn Johann Reisch.«
»Herrn Reisch?« Sie runzelte die Stirn. »Warum um Himmels willen wollen Sie denn mit Johann sprechen?«
»Sie sind also nicht Frau Reisch?«, fragte Fabel mit einem Blick auf ihr Namensschild.
Sie lachte. »Hier gibt es keine Frau Reisch. Seit Jahren nicht. Abgehauen. Kommen Sie doch rein.«
Die Pflegerin führte sie durch einen kurzen, hellen Korridor in ein Wohnzimmer mit
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