Jan Fabel 06 - Tiefenangst
herumlief.«
»Ich verstehe.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich will Sie nicht kritisieren, aber Sie können es wirklich nicht verstehen. Nicht, wenn Sie keine Minute in diesem Körper verbracht haben.«
»Sie hatten Kontakt zu zwei der vier ermordeten Frauen. Und Sie haben sogar vorgeschlagen, sich mit einer von ihnen zu treffen. Warum haben Sie das getan? Und wie wären Sie dazu in der Lage gewesen?«
Reisch gab ein seltsames Rasseln von sich. Es verblüffte Fabel, bis er merkte, dass der Behinderte versuchte zu lachen. »Ich habe mich mit diesen Frauen getroffen. Mit Dutzenden von Frauen. Manchmal haben wir die ganze Nacht gefeiert, aber nicht hier. Nicht in der realen Welt. Wenn Sie lesen, wo wir uns verabredet haben, dann werden Sie feststellen, dass sich alle Treffpunkte innerhalb von Virtual Dimension befinden. Es war alles Teil der Fantasie. Natürlich wusste ich, dass ich in der physischen Welt nie mit den Frauen zusammenkommen konnte, mit denen ich im Internet sprach, aber solange ich dort war, in jener Welt, hielt ich nichts für unmöglich.«
»Und Sie haben keine je hierher eingeladen? Zu einem Besuch in Ihrem Haus?«
»Nein. Jetzt beweisen Sie, dass Sie die Situation nicht verstehen. Ich existiere in zwei Universen. Sie sind getrennt und separat, und ich würde sie nie zusammenbringen.« Er unterbrach sich erneut und machte kurze, flache Atemzüge. Beim Zuhören hatte Fabel das Gefühl, dass sich seine eigene Brust zusammenschnürte.
»Wissen Sie«, fuhr Reisch fort, »dass Menschen wie ich in naher Zukunft wahrscheinlich so lange, wie sie wollen, in eine virtuelle Welt eingestöpselt werden? In eine andere Realität, in der sie ein normales Leben führen können.«
»Aber es wäre kein reales Leben«, widersprach Fabel. »Ich würde lieber in der realen Welt behindert sein, als lediglich eine Fantasie auszuleben, umgeben von Menschen, die nicht existieren.«
»Das ist es ja gerade«, sagte Reisch. »So ist es nicht. Diese Welt ist bevölkert von anderen wie uns. Alle flüchten vor dem, was sie quält, und gehen miteinander um. Reale Menschen in einer irrealen Welt. Für mich kommt das natürlich zu spät. Aber deshalb habe ich mich bei Virtual Dimension eingeloggt. Es war der beste Weg, dieser anderen Realität nahezukommen.«
»Hat noch jemand Zugang zu Ihrem Computer?«, erkundigte Fabel sich.
»Niemand.«
»Und Frau Rössing?«
»Auf keinen Fall. Er ist passwortgeschützt. Und ich glaube ohnehin nicht, dass Frau Rössing einen bedienen könnte. Sie ist sehr altmodisch.«
»Aha.« Fabel wusste eine Sekunde lang nicht, was er als Nächstes sagen oder tun sollte. »Es tut mir leid, Sie gestört zu haben, Herr Reisch. Und es dürfte nicht nötig sein, Ihren Computer mitzunehmen. Aber einer unserer technischen Experten wird vielleicht vorbeikommen und einen Blick darauf werfen. Die Opfer könnten Nachrichten hinterlassen haben, die für unsere Ermittlung relevant sind.«
»Das sehe ich ein.« Reischs Stimme war immer noch von Keuchlauten durchsetzt, immer noch bar jeder Intonation. »Ich werde mit Ihnen kooperieren, so gut ich kann. Nur meinen Computer möchte ich behalten.«
Heute Abend würde es spät werden. Fabel versuchte, Susanne zuerst in ihrem Hotel und dann über ihr Handy zu erreichen, doch er wurde zu ihrer Voicebox durchgestellt. Er ließ sie wissen, dass sie am folgenden Tag vielleicht ein Taxi vom Flughafen nehmen müsse. Dann sagte er nach einem Moment, ohne zu ahnen, warum: »Die SMS ist nicht von einem Kollegen gesendet worden. Egal, anscheinend habe ich sie versehentlich gelöscht. Dieses Telefon wird von den Experten gecheckt werden. Ich rufe dich später an, um dir meine neue Nummer zu nennen.«
Glasmacher und Hechtner waren vom Leichenfundort in Poppenbüttel zurückgekehrt, und er forderte sie auf, ihren Bericht zu schreiben. Dann wählte er die Nummer von Müller-Voigts Haus, doch der Politiker war offenbar nicht daheim, und Fabel sprach erneut zu einer Maschine.
»Hallo, Herr Senator. Leider habe ich nicht viel Zeit gehabt, mich um die Angelegenheit zu kümmern, über die wir gestern Abend gesprochen haben. Aber die Frau ist eindeutig nicht unter der vorliegenden Adresse zu finden. Ich habe noch ein paar weitere Nachforschungen angestellt, und Sie hören von mir, sobald ich etwas Erwähnenswertes habe.«
Danach wählte Fabel die Nummer von Kroeger in der Arbeitsgruppe Cyberverbrechen und berichtete ihm von dem Rätsel der verschwundenen SMS auf seinem Handy.
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