Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Fenstertüren, die sich auf eine kleine Terrasse im hinteren Teil des Hauses öffneten. Ein Mann saß an einem Tisch mit einem Laptop. Er hob langsam und steif den Kopf. Sein Gesicht ließ weder Überraschung noch Betroffenheit erkennen. Es verriet überhaupt nichts.
»Herr Reisch?«, sagte Fabel. »Ich bin Leitender Hauptkommissar Fabel von der Hamburger Mordkommission. Hier ist ein Beschlagnahmebefehl für Computer jeglicher Art.«
»Sie können seinen Computer nicht mitnehmen«, protestierte die Frau mit der Kittelschürze. »Das ist alles, was er hat.«
»Hier steht, dass ich es kann.« Fabel hielt das Dokument hoch. »Bitte mischen Sie sich nicht ein, oder Sie könnten …« Der Satz erstarb auf Fabels Lippen. Er bemerkte, dass Reisch in einem motorisierten Rollstuhl saß und sein Kopf von einer Halskrause gestützt wurde. Der Mann erwiderte Fabels Blick mit wässrigen Augen und der gleichen Ausdruckslosigkeit wie vorher.
»Das ist alles, was er hat«, wiederholte die Pflegerin. »Seine ganze Welt.«
»Kann er sprechen?«, fragte Fabel.
»Ja, ich kann sprechen«, erwiderte Reisch. Seine Stimme war dumpf, und er schien zwischen den Worten nach Atem zu ringen. »Vorläufig jedenfalls. Das wird auch bald vorbei sein. Aber ich kann sprechen, und ich bin hier. Sie brauchen also nicht in der dritten Person von mir zu reden.«
»Entschuldigen Sie, Herr Reisch. Ist dies Ihr einziger Computer?«
»Ja. Warum müssen Sie ihn mitnehmen? Frau Rössing hat recht – ich wäre ohne ihn völlig verloren. Es muss sich um einen Fehler handeln …«
»Kein Fehler, Herr Reisch. Sie gehören einfach zu den vielen Personen, die …« Fabel unterbrach sich und warf Werner einen Blick zu. Dieser nickte und winkte Frau Rössing und die beiden Schutzpolizisten aus dem Zimmer. »Sie haben einen Chatroom besucht und zu zwei Frauen Verbindung gehabt, die später ermordet wurden.«
»Der Network-Killer-Fall?« Reisch keuchte weiterhin zwischen den Worten, sodass sein Tonfall keine Emotion erkennen ließ.
Fabel zeigte ihm den Ausdruck von Thorsten66. »Ist das die …«, er rang nach dem richtigen Wort, »… die Persona , die Sie im Internet benutzen?«
»Auf dieser speziellen Website und auf ein paar anderen, ja.« Er machte eine Pause und meinte dann: »Sie müssen mich für armselig halten.«
»Solche Urteile fälle ich nicht, Herr Reisch. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man sich in Ihrer Situation fühlt. Darf ich fragen, was Ihren Zustand ausgelöst hat?«
»Amyotrophe Lateralsklerose.« Wieder ein mehrfaches Keuchen. »Eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems.«
»Ist sie therapierbar?«
»Es gibt so wenige Dinge, die Ärzte einem mit Gewissheit sagen können, Herr Fabel, aber ich bin in der glücklichen Lage, einige unumstößliche Wahrheiten über meinen Zustand erfahren zu haben. Sie ist zu hundert Prozent unbehandelbar und zu hundert Prozent tödlich. Mein Nervensystem schaltet sich ab, Stück um Stück, Funktion um Funktion. Innerhalb des nächsten Jahres werde ich nicht mehr sprechen können. Sechs Monate danach werde ich nicht mehr fähig sein, ohne Hilfe meinen eigenen Speichel zu schlucken oder zu atmen. Ich werde ersticken. Und wissen Sie, was das Lustigste ist? Die herrliche Ironie von allem? Ich werde immer noch bei vollem Bewusstsein sein. Ein gesunder Verstand, gefangen in einem verrottenden Körper.«
»Das tut mir leid«, sagte Fabel.
»Müssen Sie meinen Computer wirklich mitnehmen?«, fragte Reisch noch einmal. »Sie verstehen bestimmt, dass er mir mehr bedeutet als den meisten Menschen. Ich verbringe jeden Tag Stunden davor. Er ist mein einziges Fenster in die Welt, und ich werde es nicht mehr lange haben.«
»Wie bedienen sie ihn?«, fragte Fabel. »Ich meine, in Ihrem Zustand.«
»Ich kann meine Hände noch geringfügig bewegen. Mein Computer ist auf Spracherkennung eingestellt. Ich kann ihn durch gesprochene Befehle steuern. Irgendwann, wenn ich mich nicht mehr klar artikulieren kann, werde ich auch diese Möglichkeit verlieren.«
Fabel schaute hinunter auf den Ausdruck. Reischs Alter Ego. Sein Selbst in einer Fantasiewelt.
»Sie überlegen, warum …«, sagte Reisch. »Warum ich vortäusche, jung und gesund zu sein? Ganz einfach: Wenn ich auf einer dieser Sites bin, im Internet, dann werde ich zu dieser Person. Ich habe das Foto gewählt, weil ich in dem Alter ein bisschen Ähnlichkeit mit ihm hatte. Er hat die unverschämte Miene, mit der ich damals
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