Jan Fabel 06 - Tiefenangst
schön sie war: dunkle Haare, große blaue Augen. Hochgewachsen, schlank, elegant. Eine Frau, die jemandem wie Roman nie einen zweiten Blick gönnen würde, es sei denn, es wäre ein Blick des Abscheus. Andererseits war sie genau der Typ, den er begehrte; der einzige Frauentyp, den er begehrte. Das Gegenteil von Elena.
Aber es war nicht ihre Schönheit, an die er sich in erster Linie erinnerte. Etwas an der Frau im Café – an der Art, wie sie ihre Augen bewegte und wie sie dasaß – hatte ihn beunruhigt. Er hätte wetten können, dass sie sich fürchtete. Immer wieder hatte sie zur Tür hinübergeschaut, als rechnete sie damit, dass jemand ihr folgte. Und dann die Art, wie sie das Telefon auf den Tisch legte, es mit ihrer Serviette verdeckte und hinausging. Deshalb hatte er das Handy an sich genommen; nicht, weil sie es vergessen hatte und er es ihr dann zurückgeben konnte, sondern weil alles an ihrem Verhalten vorgetäuscht war. Offensichtlich wollte sie nicht, dass er ihr das Telefon zurückgab. Sie hatte es nicht vergessen, sondern es an einem Ort deponiert, wo es höchstwahrscheinlich gestohlen werden würde.
Das war faszinierend. Sie war faszinierend. Für eine Weile, nachdem die Frau das Café verlassen hatte, wurde Roman Kraxner, der fettleibige, kahl werdende Computer-Geek und Betrüger, zu seiner Online-Persona Rick334, Privatdetektiv aus New Venice. Er hatte seine Rechnung beglichen und sich an ihrem Tisch vorbeigequetscht. Dann hatte er so getan, als hätte er seinen PDA auf die Tischplatte fallen lassen, und als er ihn aufhob, steckte er das Nokia-Handy gleich mit ein.
Es war ein völlig unnötiges Täuschungsmanöver gewesen. Niemand hatte in seine Richtung geschaut. Das war einer der Vorteile für die Dicken oder Hässlichen: Nicht genug damit, dass die Leute einen nicht bemerkten, sie gaben sich sogar alle Mühe, es nicht zu tun.
Romans Neugier war noch stärker angefacht worden, als er zu Hause die Dateien auf dem Handy durch scrollte. Das Adressenverzeichnis war leer, und er hatte den Eindruck, dass die Daten gelöscht worden waren, bevor sie das Handy hatte liegen lassen. Auch alle früheren Zieladressen auf dem Satnav waren entfernt worden. Genau wie die Textnachrichten.
Eines jedoch war unverändert geblieben: der Klingelton. Und er war auf alles Mögliche eingestellt: eingehende Anrufe, SMS, Warnungen. Message in a Bottle von The Police. Nun wusste Roman, dass ihn seine Intuition hinsichtlich der Frau im Café nicht getrogen hatte. Sie hatte das Telefon tatsächlich ganz bewusst für ihn liegen lassen. Wie eine Schiffbrüchige, die eine Flasche ins Meer wirft, hatte sie etwas in dem Telefon untergebracht. Eine Botschaft. Roman brauchte sie nur zu finden.
Nicht, dass es ein Problem für ihn gewesen wäre: Das Großartige an Handys ist, dass sie eine konvergente Technologie enthalten, denn sie können als Kamera, Organizer, Webbrowser und MP3-Player dienen. Im Unterschied zu früheren Modellen hatte diese Handygeneration mehr mit einem Computer als mit einem Telefon gemeinsam, und Roman besaß die Software zur Wiederherstellung der gelöschten Daten.
Und dann waren die Dinge sehr interessant geworden.
20.
Anna Wolff stand am Fenster von Fabels Büro, lehnte sich an die Wand und schaute über die dunklen Bäume im Winterhuder Stadtpark hinweg. Das Licht verblasste, doch der Himmel war nun wolkenlos und erinnerte an ein dunkelblaues Seidentuch.
»Das war aber eine lange Kaffeepause …«, sagte sie und drehte sich um, als Fabel das Büro betrat.
»Wie bitte? Bist du unsere neue Refafrau?« Er setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich habe gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Fabian Menke vom BfV geführt. Über das Pharos-Projekt.«
»Genau darüber wollte ich mit dir reden. Und über das, was die Technische Abteilung aus den Computern herausgeholt hat, die wir heute Nachmittag beschlagnahmt haben.« Anna klopfte auf eine Akte auf Fabels Tisch. »Vorläufige Ergebnisse. In diesem Moment graben sich Geeks immer tiefer ins Silizium ein.« Sie imitierte ein kleines Kriechtier und rümpfte die Nase.
»Irgendwas Aussichtsreiches?«
»Absolut nichts.« Sie seufzte. »Diese Burschen sind anscheinend sauber. Seltsam, aber sauber. Allerdings fehlt uns ein Computer.«
»Ich konnte ihm das Gerät nicht wegnehmen, Anna. Wenn du dabei gewesen wärest …« Er verzog das Gesicht. »Oder nein, wenn du dabei gewesen wärest, hättest du den Computer mitgenommen. Wahrscheinlich auch
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