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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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so isoliert von der physischen Welt war, mit der ständigen Gefahr leben musste, im Schlaf von seiner eigenen Masse erdrückt zu werden.
    Für Roman war es wie ein Sprung ins Wasser. Das Risiko eines Gehirnschlags, dem er sich im Schlaf aussetzte, entsprach dem für Schwimmer und Freitaucher. Er hatte vom Blackout in niedrigem und in tiefem Wasser gelesen, bei dem kerngesunde, erfahrene Freitaucher das Bewusstsein verloren, weil, wenn das Kohlendioxid in ihrem Blut gefährliche Höhen erreichte, das Bedürfnis zu atmen ausgeschaltet wurde. Ihrem Gehirn wurde ohne jede Warnung und ohne physische Symptome der Sauerstoff entzogen. Sie verloren schlicht das Bewusstsein und ertranken. Es muss ein friedlicher, schmerzloser Tod sein, dachte Roman.
    In nicht wenigen Nächten hatte er erwogen, ohne seine Sauerstoffmaske zu schlafen. Aber meistens umging Roman den Schlaf und die in seinen Tiefen verborgenen Gefahren so lange wie möglich. Er blieb bis in die Morgenstunden an seinem Schreibtisch sitzen und ging erst ins Bett, wenn die Erschöpfung ihn dazu zwang. Bis dahin arbeitete und spielte Roman, ohne die Zeit oder die physische Welt wahrzunehmen, in seiner natürlichen Umgebung.
    Wenn er keine Gelder von Unternehmen überall auf der Welt stahl, verbrachte er viel Zeit damit, zu lesen und zu recherchieren. Dabei widmete er sich oft den geheimnisvollsten und abstraktesten Wissensbereichen, weit entfernt von dem, was er für seine Diebstähle benötigte. Quantenmechanik und -physik, Erkenntnisphilosophie und Bewusstseinsstudien, Biotechnologie und Wissenschaftsgeschichte waren die Lieblingsthemen bei seiner Lektüre. Er verlor sich in Büchern und Videovorträgen über Quantenverschränkung, Stringtheorie und Computersimulation. Besonderen Spaß machte es ihm, jeden Aspekt eines Themas zu erforschen und seinen Scheinwerfer in die dunkelsten Winkel zu richten. Zum Beispiel gefiel es ihm, die philosophischen Verwicklungen der Quantenphysik zu untersuchen, aber auch die närrischen New-Age-Standpunkte, die viele Blogs und Gruppen vertraten. Beispielsweise war die holografische Theorie des Universums, mit der das Problem gelöst wurde, dass Schwarze Löcher dem Zweiten Thermodynamischen Gesetz widersprechen, letztlich nur eine Neuinterpretation der Materieanordnung, aber Roman entdeckte Dutzende von New-Age-Sites und Blogs über Verschwörungstheorien, nach denen wir schließlich doch in einer Matrix leben.
    Roman war völlig immun gegen den Wahn der Verschwörungstheoretiker und gegen die lächerliche seelische Bedeutung, die New-Age-Anhänger der natürlichen Schönheit einiger Quantentheorien zumaßen. Dies war, wie er wusste, höchst ungewöhnlich für seine schizotype Persönlichkeit. Psychiater entdeckten bei Menschen wie ihm häufig das, was sie als magisches Denken bezeichneten: den Glauben an Gespenster und ESP und UFOs und Telepathie und Telekinese; dazu kam ein starker Hang zur Paranoia. Aber Roman hatte keinen Zweifel daran, dass all diese Dinge dummes Zeug waren. Es gab keine Gespenster und Poltergeister und keinen Gott. Er konnte hinreichend viel magisches Denken in der Wissenschaft finden. Ihm genügte ein Urknall in der Leere, er benötigte keinen Knall in der Nacht.
    Die Erkenntnis, dass das Universum für Physiker mittlerweile nicht nur aus Materie, sondern aus Informationen zusammengesetzt war, führte ihn dazu, sein Konzept der »cyber-radiativen Signatur« zu entwickeln. Vielleicht, dachte Roman, trifft die Bostrum-Hypothese zu und die Realität, die wir erleben, ist gar keine Realität, sondern eine höchst komplexe Simulation unserer Vorfahren. In diesem Fall stand die Menschheit vielleicht kurz davor, ihr eigenes simuliertes Universum innerhalb eines simulierten Universums zu erschaffen. Und die Grundlage jener Simulation würde das Internet bilden.
    Daraus folgte für ihn, dass die Menschen bereits anfingen, bis zu einem gewissen Grad im Internet zu »existieren«. Es gab Individuen, die ausschließlich im Internet miteinander umgingen, die sich im realen Leben nie begegnet waren und nie begegnen würden. Wenn eine Persönlichkeit die Summe der Wahrnehmungen anderer Menschen war, dann musste es Persönlichkeiten geben, die nur im Cyberspace existierten. Dies war keine vermittelte und nicht einmal eine virtuelle Welt, sondern der Beginn einer konkreten und absoluten – wenn auch einer parallelen – Realität.
    Aber es war keine Realität, die von allen geteilt wurde. Über Fünfzigjährige hatten

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