Jan Fabel 06 - Tiefenangst
konnte: Die Ironie der Erleichterung des Lebens durch die Technik bestand darin, dass man vergaß, selbstständig zu handeln. Anna Wolff meldete sich.
»Anna, ich möchte, dass du ein paar Dinge für mich checkst. Und zwar schnellstens.«
»Okay, für unseren Verdächtigen Nummer eins tue ich doch alles. Der Letzte, den du überprüfen lassen wolltest, war kurz darauf tot.«
»Wenn dies hier vorbei ist, Kommissarin Wolff, werde ich dich nach Buxtehude versetzen lassen, wo der Höhepunkt deiner Woche – oder deines Monats – ein Fahrraddiebstahl sein wird.«
»O nein!«, sagte sie mit gespieltem Entsetzen. »Das ist zu weit vom Gefängnis Billwerder weg. Dann werde ich dich nie besuchen können. Wen soll ich unter die Lupe nehmen?«
»Den Mann, der bei der Brandstiftung im Schanzenviertel umgekommen ist. Daniel Föttinger. Und die Frau, die mit ihm zusammen war. Victoria Kempfert.«
»Okay. Kommst du zurück?«
»Später. Ich muss noch einen weiteren Besuch machen.« Fabel öffnete seinen BMW mit der Fernbedienung und schob sich auf den Fahrersitz. Er blickte in den Rückspiegel. Ja. Immer noch da. »Anna, noch etwas, das du durch den Computer jagen musst. Und behalt’s für dich. Ich werde verfolgt. Ein neuer VW-Geländewagen. Ein Tiguan, glaube ich. Er taucht schon den ganzen Tag in meinem Rückspiegel auf. Vermutlich einer von uns oder ein BfV-Team. Ich möchte bloß sicher sein.«
»Scheiße … Du glaubst doch nicht, dass du wirklich unter Verdacht stehst?«
»Das bezweifle ich«, sagte Fabel, »aber vielleicht werde ich der Ordnung halber beobachtet, wie Kriminaldirektor van Heiden sagen würde.«
»Kennzeichen?«
Fabel kniff die Augen zusammen, um es im Rückspiegel zu entziffern, und las es Anna vor. »In zwei Minuten«, sagte sie.
Die Hamburger Architektur lässt auf eine sehr diskrete, geschmackvolle Art erkennen, dass dies eine Stadt ist, in der erhebliche Summen verdient werden. Daniel Föttingers Haus lag zwischen Nienstedten und Blankenese und deutete verhalten auf ein Riesenvermögen hin. Es stand auf vier Hektar Land in einer der teuersten Gegenden in Deutschland. Angesichts der Tätigkeit von Föttingers Firma hatte Fabel mit einem entsprechend ultramodernen, emissionsfreien Gebäude gerechnet wie dem von Müller-Voigt im Alten Land. Doch es war eine elegante weiße, aristokratische Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert mit grünen Fensterläden und einem zweistöckigen Wintergarten mit Vogelhaus an der Ostseite. Auf dem Grundstück, das wie ein englischer Park angelegt war, standen verstreut jahrhundertealte Eichen auf den Rasenflächen.
Das hatte Fabel nicht erwartet, doch er war sicher gewesen, dass Föttingers Witwe nicht allein sein würde. Er hatte recht.
Die erhabene Umgebung ließ Fabel zunächst vermuten, dass der untersetzte, makellos gekleidete Mann mit dem geschorenen Kopf und dem Ziegenbärtchen, der ihm die Tür öffnete, der Butler war. Aber der Schnitt seines Anzugs und sein Auftreten machten deutlich, dass er kein Diener sein konnte.
Er führte Fabel in einen großen, hellen Salon. Ein jüngerer Mann stand an der anderen Seite des Raumes neben einem Konzertflügel. Auch er trug einen Straßenanzug, der jedoch grau und nicht von der gleichen Qualität war. Auffällig an ihm war der Kontrast zwischen seiner blassen Haut und seinem sehr dunklen, kurzen Haar.
Die einzige andere anwesende Person war eine Frau von ungefähr fünfunddreißig Jahren, die auf einem Rosenholzsofa saß. Sie war schlank und hatte schulterlanges gewelltes Haar von leuchtendem Kastanienbraun, das sie aus ihrem zarten, bleichen und leicht sommersprossigen Gesicht zurückgebürstet hatte. Ihr schwarzes, ärmelloses Kleid schmiegte sich an ihre Figur, wie es nur den teuersten Stoffen möglich ist, und ihre Haltung war so perfekt, dass sie auf dem Sofa zu sitzen schien, ohne es zu berühren. Auf den ersten Blick schien Kirstin Föttinger aus erlesenem Porzellan zu bestehen.
Sie wirkte nicht weniger schön als Föttingers Geliebte, doch während Victoria Kempfert eine Frau war, die von Männern begehrt wurde, glich Kirstin Föttinger einem zerbrechlichen, kostbaren Objekt, das man in einer Sammlung verwahrte. Und irgendetwas an ihr wirkte unirdisch.
»Ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, mich zu empfangen, Frau Föttinger«, sagte Fabel. »Ich weiß, dass Sie vermutlich noch unter Schock stehen.«
Sie reagierte mit einem höflichen Porzellanlächeln. In Wirklichkeit schien sie
Weitere Kostenlose Bücher