Jan Weiler Antonio im Wunderland
dann sind wir da: Auf der Straße. Auf der 42Sten Straße genauer gesagt. Ich gehe einen Schritt nach vorne, atme einmal tief ein, dieses New Yorker Großstadtluftgemisch. Dann drehe ich mich um. Benno fehlt. Wo ist Benno? Antonio macht eine etwas obszöne Geste, sie bedeutet: Benno ist auf der Toilette.
Na ja, gut, warten wir. Nach zehn Minuten kommt er nach, und Antonio entscheidet: rechts rum, also Richtung Times Square.
Der Times Square verbraucht für sein unglaubliches Ge-funzel und Gefunkel pro Stunde ungefähr so viel Strom wie alle Einwohner von Kassel in einem Jahr. Man kann leicht erkennen, wer ein New Yorker ist und wer nicht. Jeder der sich umsieht, der auf die Lichter und Videoschirme und aufleuch-tenden Textnachrichten an den Häuserfassaden starrt, ist bestimmt keiner. Die Einwohner von New York reagieren darauf offenbar nicht mehr. Es nimmt sie nicht gefangen. Also haben die Häuser nicht bloß Millionen von Glühbirnen, Dioden und blinkende Pixel, sondern auch Lautsprecher. Die Straße scheint wie eine Membran zu vibrieren. Kaum zu glauben, dass dieser Orkan von Musik und Stimmen von Menschen für Menschen gemacht wurde. Aber die hören das anscheinend gar nicht. Die New Yorker haben Hornhaut in den Ohren, oder kleine weiße I-Pod-Stöpsel. So machen sie sich mit ihrem Pri-vatlärm vom Straßenlärm unabhängig. Was wohl passierte, wenn plötzlich alles verstummte und gleichzeitig alle Lichter ausgingen? Ich stelle mir den Effekt vor wie in einer Discothek am frühen Morgen, in einem guten Club, wo irgendwann die Musik ausgeht und die Lichter verlöschen. Die Putzfrau knipst 161
ein taghelles Deckenlicht an, und plötzlich sieht der Raum ganz anders aus, völlig entfremdet und in Wirklichkeit ganz normal. So muss es beim Times Square gewesen sein, als vor ein paar Jahren abends der Strom ausfiel. Die Menschen haben sich ausgerechnet hier getroffen und Kerzlein angezündet, am normalerweise grellsten Ort der Welt. Als das Licht wieder anging und die Rechner wieder hochgefahren waren, um mit dem Bedröhnungsprogramm fortzufahren, hörten die New Yorker sofort wieder auf, diesen Ort wahrzunehmen. Sie setzten ihre Sonnenbrillen auf, und die Hornhaut verschloss reflexartig ihre Ohrmuscheln.
Benno und Antonio gehen dicht hinter mir. Dieser Platz bietet ihnen entschieden mehr Information über Urbanität und das Tempo der Moderne, als sie benötigen, um sich davor zu fürchten. Mir geht es ehrlich gesagt genauso. Und na-türlich wird mir klar, dass Antonio diese Stadt unterschätzt hat, das sehe ich in seinen Augen. Er hat sich mit etwas bei weitem zu Großen angelegt. Dass diese Stadt auch ruhige, fast einsame Ecken hat, werde ich ihm jetzt nicht auf die Nase binden, er soll ruhig ein Weilchen glauben, ganz Amerika sei wie hier.
Dann laufen wir weiter, immer die Straße entlang. Ich habe kein Ziel, und mir scheint, dass Antonio das seine stetig aus den Augen verliert. Man muss gegen New York kämpfen, man muss es sich erlaufen, um es zu bezwingen. Block für Block.
Aber die Stadt wehrt sich gegen Wanderer. Sie flutet die Stra-
ßen mit Autos und Ortskundigen, gegen die man läuft wie gegen große Steine in einer Brandung. Die Stadt ist Gewalt, nicht die Menschen, die in ihr leben. Und diese Häuser, diese Architektur der Macht wirkt, als hätten riesenhafte Hunde Pissmarken gesetzt. Benno und Antonio, der italienische und der deutsche Kleinstädter, taumeln zwischen den Wolken-162
kratzern herum. Niemand bemerkt sie und ihr Staunen. Wer hier staunt, hat die Stadt noch nicht erobert. Erst wenn einer geschäftig und mit einem klaren Ziel unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, also zu Fuß und im raschen Wechsel mit Taxi, Bus und Subway, durch Manhattan navigiert, einem Affen gleich, der im Dschungel die Lianen, Äste und Bäume benutzt, ist er wirklich angekommen in New York.
Manche lernen das rasch, es dient dem Überleben in dieser mit Nieselregen-Feinstaub-Creme eingeschmierten Riesen-stadt. Vor manchen Bürohäusern hat man mit Farbe kleine weiße Vierecke gemalt, darin stehen die Raucher. Sie müssen 49 Stockwerke hinunterfahren und sich vor das Haus bege-ben, wenn sie eine Zigarette qualmen wollen. Dort stehen sie wie Flamingos herum, und wenn sie fertig sind, fahren sie wieder 49 Stockwerke in die Höhe. Wenn jemand heimlich an seinem Arbeitsplatz raucht, fliegt er raus, oder es wird in den Abendnachrichten über ihn berichtet. Die Amerikaner sind fest davon überzeugt, im freiesten Land der
Weitere Kostenlose Bücher