Jan Weiler Antonio im Wunderland
sie geleuchtet und Rauch verzehrt. Das Beste an diesem Rauch-verzehrervogel ist, dass er Benno zuflog. Das nennt man 192
Sammlerglück. Er musste sich nicht einmal bemühen, um in den Besitz seines neuen Schatzes zu kommen. Der Wert des Artefaktes lässt sich schwer schätzen, denn das Porzellan ist ein wenig angeschlagen. Aber das ist Benno egal. Auch wenn es kein Terrier und kein Mops geworden ist, so hat er doch bei seiner Rückkehr etwas vorzuweisen, und nur daraufkommt es Sammlern an. Apropos Rückkehr: Von ihm aus können wir jetzt wieder nach Hause fliegen, New York ist hiermit für ihn abgehakt.
Auch heute trägt Benno wieder seinen merkwürdigen Aufzug. Vielleicht hat er mehrere Garnituren gleicher Art im Ge-päck?
Ich klappe meine Karte auf und mache den Tagesplan. Heute geht es nun endlich nach Little Italy. Zu Fuß sind das ungefähr vier Kilometer. Das müsste also zu schaffen sein. Wir werden nach Spuren des meiner Meinung nach fiktiven Mauro Conti suchen, und Antonio wird schier ausflippen, wenn er dort unter Emigranten oder zumindest Emigranten-Nach-kommen sein darf. Es wird sein großer Tag in New York, und daher habe ich auch viel Zeit dafür eingeplant. Apropos Antonio, wo ist der eigentlich?
«Weißt du, wo Antonio bleibt?»
«Da is’ krank.»
Wir sitzen hier bald seit einer Viertelstunde, und erst auf Nachfrage teilt Benno mit, dass sein bester Freund krank ist.
Das nenn ich mal einen Kumpel.
«Was heißt, der ist krank?»
«Dat heißt, es jeht ihm nit jut.»
«Was es bedeutet, weiß ich. Was er hat, will ich wissen.»
«Dat widdisch 1 nit. Vielleischt Krebbs?»
1 weiß ich
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«Benno. Bitte. Damit macht man keine Scherze.»
«Häs’ du schomma erlewt, dat isch ene Schechz jemaht hätt?»
Dann schildert er mir ausführlich die Genese der Erkran-kung eines Bekannten namens Leuven Pitter 1 , wo auch erst keiner wusste, was der hatte. Er habe bloß immer so geguckt und gesagt, es ginge ihm nicht gut, und als es schon zu spät war, habe man bei ihm dann «Krebbs» festgestellt. Pitter sei zwei Tage später verstorben. Wenn man ihm diese tödliche Diagnose nicht gestellt hätte, könnte er heute noch leben.
Ich lasse Benno mit seinem Essen – von allem alles, wie mir scheint – alleine und gehe nach oben zu Antonio.
Er öffnet die Tür und verzieht sich dann wieder ins Bett, wo er sich bis zum Kinn zudeckt. Er sieht gar nicht so elend aus, körperlich fehlt ihm auch nichts.
«Was ist denn los, Toni Casinista?»
Normalerweise reagiert er freudig auf seinen Spitznamen.
Er will ihm dann sofort alle Ehre machen. Aber heute nicht.
«Kein Ahnung, bin nickte so rechte lustig heut’.»
«Und woran liegt's?»
«Iste so anders hier wie zu Haus.»
Das stimmt natürlich. Zu Hause steht er völlig im Mittelpunkt seiner kleinen Welt. Da schlägt keine Tür zu, ohne dass er weiß, warum. Dort kennt er jeden Pfad, dort kann er im Supermarkt ungestraft Waren umetikettieren und so bares 1 Zu den wenigen Gemeinsamkeiten des Bayerischen und des Rheinischen gehört die vor allem ländliche Neigung, den Nach- vor dem Vornamen zu nennen, sodass die Bezeichnung Vor- und Nachname ihre Bedeutung in paritätischer Eintracht verlieren, was die Sache wieder nicht so schlimm macht. In diesem Falle hieße der Patient von Amts wegen Peter Leuven.
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Geld sparen. Dort wäscht er jede Woche sein Auto und sieht sich anschließend die Bundesliga an. Aber hier ist das anders.
In New York kennt ihn niemand. Keiner ist scharf auf seinen Gesang, auf seine philosophischen Ausführungen, auf seine politischen Ansichten. Hier ist er bloß ein Molekül unter Millionen anderen Molekülen. Hier ist er – fremd. Und das ge-fällt ihm nicht. Es macht ihn unsicher. Es verändert ihn. Aus dem schlauen Antonio, der immer eine gute Idee hat, um sein Leben noch schöner zu machen, wird hier Stunde um Stunde sichtbarer ein alter Mann, der nicht einmal die Himmels-richtung, in die er schaut, bestimmen kann. Sein Hotelfenster geht nach Norden, aber zwei Tage lang hat er gedacht, es liege zum Osten hin. Als wir darüber gestern Abend sprachen, wurde er beinahe wütend. Und heute ist er deswegen krank. Er hat Heimweh.
«Willst du nach Hause?»
«Keiner Fall!»
Ich würde das an seiner Stelle auch nicht zugeben. Die Nie-derlage wäre einfach zu groß.
Ich versuche ihn aufzumuntern, indem ich ihm sage, dass wir nach Little Italy laufen wollen. Benno sei auch schon ganz wild darauf. Letzteres stimmt so nicht, aber Benno
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