Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
fuhr die Witwe fort, »aber Sie sind so jung, Sie haben so wenig Menschenkenntnis, ich möchte Sie gern etwas vorsichtig machen. Es gibt ein altes Sprichwort: ›Es ist nicht alles Gold, was glänzt.‹ Und ich fürchte, dass wir in dieser Angelegenheit etwas finden werden, das sehr verschieden ist von dem, was Sie und ich erwarten.«
»Weshalb? – Bin ich denn ein Ungeheuer?«, fragte ich. »Ist es unmöglich, dass Mr. Rochester eine aufrichtige Neigung für mich hegen könnte?«
»Nein. Sie sind nett, und in der letzten Zeit haben Sie sich sehr verschönt. Möglich ist es ja, dass Mr. Rochester Sie sehr lieb hat. Ich habe immer bemerkt, dass er eine gewisse Vorliebe für Sie hegte. Es hat Zeiten gegeben, wo ich um Ihretwillen ein wenig unruhig über seine so starke Bevorzugung Ihrer Person war, und wo ich oft wünschte, Sie ein wenig vorsichtiger zu machen. Aber ich wollte nicht einmal die Möglichkeit eines Unrechts andeuten, wusste ich doch, dass solch eine Idee Sie beleidigen, vielleicht empören würde. Und Sie selbst waren so diskret und so durchaus vernünftig und bescheiden, dass ich hoffte, man würde Sie Ihrem eigenen Schutz überlassen können. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich gelitten habe, als ich Sie gestern Abend im ganzen Haus suchte und weder Sie noch unseren Herrn finden konnte. Und als ich Sie dann um Mitternacht mit ihm heimkehren sah!«
»Nun lassen Sie das jetzt und denken Sie nicht mehr daran«, unterbrach ich sie ungeduldig. »Es muss Ihnen genügen, dass es durchaus in der Ordnung war.«
»Ich will nur hoffen, dass schließlich alles in Ordnung kommt«, sagte sie, »aber glauben Sie mir, dass Sie gar nicht vorsichtig genug sein können. Versuchen Sie, Mr. Rochester in einer gewissen Entfernung zu halten. Trauen Sie ihm ebenso wenig wie sich selbst. Herren in seiner Stellung pflegen gewöhnlich nicht ihre Gouvernanten zu heiraten.«
Ich wurde wirklich ärgerlich; glücklicherweise kam Adèle ins Zimmer gelaufen.
»Lassen Sie mich mitfahren, nehmen Sie mich mit nach Millcote!«, rief sie. »Mr. Rochester will mich nicht mitnehmen, obgleich in dem neuen Wagen noch so viel Platz ist. Mademoiselle, bitten Sie für mich, dass er mich mitnimmt!«
»Das werde ich, Adèle.« Und froh, meiner trübseligen Lehrmeisterin zu entrinnen, lief ich mit ihr von dannen. Der Wagen war bereit, der Kutscher fuhr gerade am Hauptportal vor. Mein Herr und Gebieter ging vor dem Haus auf und ab, und Pilot folgte ihm geduldig auf den Fersen.
»Nicht wahr, Sir, Adèle darf uns begleiten?«
»Ich habe es ihr abgeschlagen. Ich will keinen kleinen Rangen, ich will nur dich.«
»Lassen Sie sie mitkommen, Mr. Rochester, ich bitte Sie darum. Es wäre wirklich besser.«
»Nein. Sie würde uns nur hinderlich sein.«
Er wirkte sehr entschieden, sowohl im Ton als auch in seinem Blick. Die Kälte von Mrs. Fairfax’ Warnungen und Zweifeln legte sich über mich, und meine Hoffnungen wurden durch ein Gefühl von Ungewissheit und Haltlosigkeit befallen. Das Bewusstsein meiner Macht über ihn schwand dahin. Ich war nahe daran, ihm ohne weitere Einwände zu gehorchen. Als er mir beim Besteigen des Wagens behilflich war, sah er mir indessen ins Gesicht.
»Was bedeutet das?«, fragte er. »Aller Sonnenschein ist verschwunden. Wünschst du denn wirklich, dass das Kind uns begleitet? Betrübt es dich in der Tat, wenn die Kleine zurückbleiben muss?«
»Es wäre mir lieber, wenn sie mitkäme, Sir.«
»Dann lauf und hole deinen Hut, sei aber schnell wie der Blitz!«, rief er Adèle zu.
Sie gehorchte ihm, so schnell sie konnte.
»Schließlich bedeutet die Störung eines einzigen Morgens ja auch nicht viel«, sagte er, »wenn ich dich – deineGedanken, deine Unterhaltung und deine Gesellschaft – bald ganz für mich, fürs ganze Leben habe.«
Als Adèle in den Wagen gehoben wurde, begann sie mich zu küssen, um mir ihre Dankbarkeit für meine Vermittlung zu bezeigen. Augenblicklich schob er sie in einen Winkel auf der anderen Seite von ihm, aber sie beugte sich erneut an ihm vorüber zu mir. Dieser Banknachbar war ihr nun doch zu streng: Bei seiner jetzigen frostigen Laune wagte sie nicht einmal zu flüstern, geschweige denn, irgendeine Auskunft von ihm zu erbitten.
»Lassen Sie sie zu mir kommen«, bat ich, »vielleicht stört sie Sie, Sir, und auf dieser Seite hier ist noch genug Platz.«
Er reichte sie mir zu, als wäre sie ein Schoßhündchen. »Ich werde sie doch noch in eine Schule schicken«, sagte er,
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