Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
mich wieder zu den Szenen meiner Kindheit zurück. Mir träumte, ich läge im Roten Zimmer in Gateshead; die Nacht war düster, und eine seltsame Angst lastete auf meiner Seele. Das Licht, das mich vor langer Zeit ohnmächtig gemacht hatte, spielte in diese Vision hinüber, es schien an der Wand emporzuziehen und dann vibrierend im Mittelpunkt der düsteren Zimmerdecke zu verweilen. Ich hob den Kopf empor, um zu sehen: Das Dach löste sich in Wolken auf, hoch und trübe. Der Schimmer glich nun dem Mondlicht, bevor es einen Wolkenschleier zerreißt. Ich wartete darauf, dass der Mond aufging – ich wartete mit der seltsamsten Vorahnung, als müsse mein Urteil auf seiner Scheibe geschrieben stehen. Dann brach er hervor, wie noch niemals der Mond durch Wolken hervorgebrochen ist: Zuerst drang eine Hand durch die schwarzen Massen und schob sie zur Seite. Dann erschien in dem Azur nicht der Mond, sondern eine weiße, menschliche Gestalt, welcheihre strahlende Stirn erdwärts senkte. Sie blickte mich dabei unverwandt an. Sie sprach zu meiner Seele, aus unermesslicher Ferne kamen die Laute und doch waren sie so nahe. In meinem Herzen flüsterte es:
»Meine Tochter, fliehe die Versuchung!«
»Mutter, ich will!«
So antwortete ich, nachdem ich aus dem tranceartigen Traum erwacht war. Es war noch Nacht, aber Julinächte sind kurz – bald nach Mitternacht beginnt die Dämmerung. ›Es kann nicht zu früh sein, um mit der Aufgabe zu beginnen, welche ich zu erfüllen habe‹, dachte ich. Dann erhob ich mich vom Lager. Ich war noch angekleidet, denn ich hatte mich nur meiner Schuhe entledigt. Ich wusste, wo ich in meiner Schublade etwas Wäsche, einen Ring und ein Medaillon zu finden hatte. Während ich nach diesen Gegenständen suchte, gerieten meine Finger mit den Perlen eines Halsbandes in Berührung, welches Mr. Rochester mich vor einigen Tagen anzunehmen gezwungen hatte. Das ließ ich zurück. Es gehörte nicht mir; es gehörte der Braut, jenem Luftgebilde, das in nichts zerflossen war. Die anderen Sachen schnürte ich zu einem Päckchen zusammen; meine Börse, welche zwanzig Schillinge enthielt, mein ganzes Besitztum, schob ich in die Tasche. Ich setzte meinen Strohhut auf, steckte meinen Schal zusammen, nahm das Päckchen und meine Schuhe, die ich noch nicht anziehen wollte, und schlich aus meinem Zimmer.
»Leben Sie wohl, gütige Mrs. Fairfax!«, flüsterte ich, als ich an ihrer Tür vorüberglitt.
»Lebe wohl, mein Liebling Adèle!«, sagte ich, als ich einen Blick auf die Tür des Kinderzimmers warf. Dem Gedanken, hineinzugehen und sie zu umarmen, durfte ich nicht Raum geben – es galt, ein feines Ohr zu täuschen. Wusste ich denn, ob es nicht in diesem Augenblick lauschte?
Ich würde auch an Mr. Rochesters Zimmer ohne Aufenthalt vorübergegangen sein; da jedoch mein Herz für einenAugenblick zu schlagen aufhörte, als ich an seiner Schwelle vorbeieilen wollte, war ich gezwungen, eine Weile stehenzubleiben. – Da war kein Schlaf eingekehrt: Der Bewohner durchschritt ruhelos das Gemach von einem Ende zum anderen; wiederholt stieß er tiefe Seufzer aus, während ich dort stand und lauschte. In jenem Zimmer war mein Himmel – mein irdischer Himmel, wenn ich wollte! Ich brauchte nur hineinzugehen und zu sagen:
›Mr. Rochester, ich will Sie lieben und bei Ihnen bleiben bis an das Ende unseres Lebens‹, und eine Quelle der Wonne und des Entzückens würde sich in meine Seele ergießen. Daran dachte ich.
Jener gütige Mann, mein Herr und Gebieter, der jetzt keinen Schlaf finden konnte, wartete mit Ungeduld auf den kommenden Tag. Am Morgen würde er nach mir schicken – dann wäre ich jedoch fort. Er würde mich suchen lassen – umsonst! Er würde sich verlassen fühlen, seine Liebe für verschmäht halten. Er würde leiden, vielleicht der Verzweiflung anheimfallen. Auch daran dachte ich. Meine Hand machte eine Bewegung nach der Türklinke. Doch ich zog sie zurück und schlich weiter.
Traurig suchte ich meinen Weg nach unten. Ich wusste, was ich zu tun hatte und tat es mechanisch. In der Küche suchte ich den Schlüssel zur Seitentür; außerdem nahm ich eine kleine Flasche mit Öl und eine Feder, um den Schlüssel und das Schloss zu ölen. Ich trank ein wenig Wasser und nahm ein Stück Brot, denn vielleicht würde mein Weg weit sein. Meine Kräfte, welche in letzter Zeit auf so harte Proben gestellt waren, durften mich nicht verlassen. All dies tat ich ohne das leiseste Geräusch. Ich öffnete die Tür, ging
Weitere Kostenlose Bücher