Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
zurücklegen mussten, bevor ich menschliche Wohnungen erreichte, wo ich kalte Mildtätigkeit in Anspruch nehmen musste, um eine Unterkunft zu erlangen. Wo widerstrebende Barmherzigkeit angerufen und herzlose Zurückweisungen ertragen werden mussten, ehe überhaupt jemand meine Geschichte anhören würde und man irgendeines meiner Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft erfüllte.
Ich berührte den Heideboden, er war trocken und noch warm von der Hitze des Sommertages. Ich blickte zum Himmel empor – er war klar, ein freundlicher Stern funkelte gerade über dem Gipfel der Felsenklippe. Der Tau fiel, aber glücklicherweise sehr schwach. Nicht ein Windhauch störte die Ruhe. Die Natur schien mir gut und wohlwollend, ich glaubte, dass sie mich arme Ausgestoßene lieben würde. Und ich, die ich von Menschenkindern nur Misstrauenzu erwarten hatte, Zurückweisung und Beleidigungen, ich klammerte mich mit kindlicher Zärtlichkeit an sie. Heute Nacht wenigstens wollte ich ihr Gast sein, da ich doch auch ihr Kind war. Mutter Natur würde mir ja ohne Geld, ohne Lohn Obdach gewähren. Ich hatte noch einen kleinen Bissen Brot; es war der Rest einer Semmel, welche ich in einer Stadt gekauft hatte, die wir um die Mittagszeit passierten – gekauft mit einem verirrten Penny, meinem letzten Geldstück. Hier und da fand ich reife Heidelbeeren wie Perlen im Heidekraut. Ich pflückte eine Handvoll davon und aß sie zu meinem Brot. Mein zuvor noch quälender Hunger war, wenn auch nicht gestillt, so doch gemildert durch dieses Einsiedlermahl. Zuletzt sagte ich mein Abendgebet und dann suchte ich mir ein Nachtlager.
Neben der Felsenklippe war das Heidekraut sehr üppig. Als ich mich niederlegte, waren meine Füße beinahe darin verschwunden. Zu beiden Seiten wuchs es zudem so hoch, dass es fast über mir zusammenschlug und so dem Hereindringen der Nachtluft nur wenig Raum gewährte. Ich legte meinen Schal doppelt zusammen und breitete ihn wie eine Decke über mich; eine kaum spürbare, bemooste Erhöhung bildete mein Kopfpolster. So verwahrt, spürte ich wenigstens beim Beginn der Nacht keine Kälte.
Meine Nacht wäre vielleicht ruhig gewesen, wenn mein gequältes Herz sie nicht unterbrochen hätte. Es klagte über seine blutenden Wunden, seinen inneren Schmerz, seine zerrissenen Saiten. Es zitterte um Mr. Rochester und sein Schicksal, es beklagte ihn mit tiefem Mitleid, es verlangte nach ihm mit endloser Sehnsucht, und, hilflos wie ein Vogel, dem beide Flügel gebrochen sind, schlug es noch mit seinen zerstörten Schwingen und machte vergebliche Versuche, zu ihm zu fliegen.
Erschöpft durch diese Seelen- und Gedankenpein, erhob ich mich auf die Knie. Die Nacht war gekommen, und ihre Sterne waren aufgegangen; eine schöne, stille Nacht, zu reinund klar, als dass man der Furcht hätte Raum geben können. Wir wissen, dass Gott allgegenwärtig ist, aber gewiss fühlen wir seine Gegenwart am deutlichsten, wenn seine größten und herrlichsten Werke im Glanz vor uns ausgebreitet liegen. Und der unbewölkte Nachthimmel, an dem seine Welten ihren stillen Kreislauf vollführen, lässt uns am stärksten seine Unendlichkeit, seine Allmacht, seine Allgegenwärtigkeit empfinden. Ich hatte mich auf die Knie begeben, um für Mr. Rochester zu bitten. Als ich mit tränenblinden Augen aufsah, erblickte ich die gewaltige Milchstraße. Indem ich mich daran erinnerte, was diese eigentlich sei – welche zahllosen Systeme dort nur wie ein Lichtschein durch den Raum zogen –, da fühlte ich die Macht und die Kraft Gottes. Ich war überzeugt von seiner Macht, das erhalten zu können, was er erschaffen hatte; ich war sicher, dass die Erde nicht untergehen könne, noch irgendeine Kreatur, die auf ihr lebte. Dann wandelte sich mein Gebet in eine Danksagung: Der Quell des Lebens war ja auch der Erlöser der Seelen. Mr. Rochester war in Sicherheit, er war Gottes, und Gott würde ihn schützen! Und ich legte mich wieder an die Brust der Erde und nicht lange dauerte es, so hatte ich im Schlaf allen Kummer vergessen.
Aber am nächsten Tag trat die Not wieder bleich und hager an mich heran. Lange, nachdem die kleinen Vögel ihre Nester verlassen; lange, nachdem die Bienen während des süßen Tagesbeginns den Honig aus den Heideblüten gesogen hatten und noch bevor der Tau getrocknet war – als die langen Schatten des Morgens kürzer wurden und die Sonne Himmel und Erde erfüllte, da erhob ich mich und blickte umher.
Welch ein stiller, warmer, herrlicher Tag!
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