Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
einen Stuhl; ich brach darauf zusammen. Die Tränen waren mir nahe, und ich befand mich in der größten Versuchung, ihnen nachzugeben. Doch bedachte ich noch rechtzeitig, wie unvernünftig eine solche Kundgebung sein würde, und hielt sie zurück. Ich fragte sie, ob es im Dorf wohl eine Schneiderin oder eine einfache Handarbeiterin geben würde?
Ja, zwei oder drei. Gerade so viele, wie hier Beschäftigung finden könnten.
Ich überlegte. Ich war an meine Grenze gekommen, ich sah der Not jetzt ins Auge. Ich hatte keine Hilfsquelle mehr, keinen Freund, kein Geld. Irgendetwas musste geschehen, aber was? An irgendjemanden musste ich mich wenden, aber an wen?
Ob sie von irgendeiner Stelle in der Nachbarschaft wisse, wo eine Dienerin gebraucht werde?
Nein, sie wisse von keiner.
Welches denn wohl der hauptsächliche Handel an diesem Orte sei? Womit die Mehrzahl der Leute sich beschäftige?
Einige seien Landarbeiter, viele von ihnen arbeiteten auch in der Nadelfabrik von Mr. Oliver und in der Gießerei.
Ob Mr. Oliver auch Frauen beschäftige?
Nein, dies sei Männerarbeit.
Und womit beschäftigten sich die Frauen?
»Keine Ahnung«, lautete die Antwort. »Einige tun dies, andere das. Arme Leute müssen zusehen, dass sie durchkommen.«
Sie schien meiner Fragen müde zu sein, und in der Tat, welches Recht hatte ich, sie zu belästigen? Ein oder zwei Nachbarn traten ein. Augenscheinlich brauchte man meinen Stuhl. Ich verabschiedete mich.
Ich ging die Straße hinauf und blickte im Vorübergehen jedes Haus zur Linken und zur Rechten an, aber ich konnte keinen Vorwand, keine Veranlassung finden, irgendwo einzutreten. Ich streifte im Dorf umher, dann ging ich wieder aufs freie Feld hinaus, um eine Stunde oder später erneut zurückzukehren. Völlig erschöpft und leidend durch den Mangel an Nahrung, bog ich schließlich in einen kleinen Weg ein und setzte mich unter eine Hecke. Aber nur wenige Minuten vergingen, und ich war wieder auf den Füßen; getrieben suchte ich nach einem Ausweg oder wenigstens nach jemandem, der mir raten könnte. Ein hübsches kleines Haus mit einem Vorgarten stand am Ende des Gässchens, der Garten war außerordentlich gepflegt und prangte in schönster Blütenpracht. Ich stand still davor. Durfte ich mich der weißen Tür nähern oder den blitzenden Klopfer berühren? Konnte es denn im Interesse der Bewohner liegen, mir behilflich zu sein? Dennoch trat ich näher und klopfte an. Eine sauber gekleidete junge Frau mit milden Gesichtszügen öffnete mir. Mit einer Stimme, von welcher man auf ein hoffnungsloses Herz und einen kranken Körper schließen konnte – einer leisen, stammelnden Stimme –, fragte ich, ob man hier ein Dienstmädchen bräuchte.
»Nein«, sagte sie, »wir halten keine Angestellten.«
»Können Sie mir denn nicht sagen, wo ich Beschäftigung irgendwelcher Art finden kann?«, fuhr ich fort. »Ich bin hier fremd, ohne Bekannte oder Freunde am Ort.«
Aber es war nicht ihre Sache, für mich zu denken oder mir eine Stelle zu suchen. Überdies, wie zweifelhaft mussten ihr mein Charakter, meine Lage, meine Erzählung erscheinen. Sie schüttelte den Kopf, es täte ihr leid, mir keine Auskunft geben zu können, und die weiße Tür wurde geschlossen. Leise und höflich, aber ich war ausgeschlossen. Wenn sie sie noch eine kleine Weile offen gelassen hätte, so glaube ich, dass ich um ein Stückchen Brot gebeten hätte, denn jetzt war ich wirklich am Ende.
Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in das schäbige Dorf zurückgehen zu müssen, wo sich mir keine Aussicht auf Hilfe bot. Ich wäre lieber in einen Wald entwichen, den ich in nicht allzu großer Entfernung sah und der mir mit seinem dicken Schatten einladenden Schutz zu versprechen schien. Aber ich war so krank, so schwach, so gemartert durch das natürliche Verlangen nach Nahrung, dass mein Instinkt mich fortwährend in die Nähe menschlicher Wohnungen führte, wo ich vielleicht doch noch durch Zufall einen Bissen Brot erlangen konnte. Einsamkeit wäre ja keine Einsamkeit gewesen, Ruhe keine Ruhe, solange jener Geier Hunger seine Krallen und seinen Schnabel in meine Seiten schlug.
Ich näherte mich den Häusern, ich entfernte mich und kehrte doch wieder zurück. Dann wanderte ich von Neuem fort, immer wieder getrieben durch das Bewusstsein, dass ich kein Recht zu betteln habe – kein Recht zu erwarten, dass irgendjemand an meiner verzweifelten Lage Anteil nehme. Inzwischen neigte der Nachmittag sich seinem Ende zu,
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