Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Welch eine goldene Wüste war dieses weite Moor! Überall Sonnenschein! Ich wünschte, dass ich in ihm und von ihm leben könnte. Ich sah eine Eidechse über den Felsen huschen, ich sah eine Biene geschäftig zwischen den süßen Heidelbeeren. Wiegern wäre ich in diesem Augenblick Biene oder Eidechse gewesen, dann hätte ich hier hinreichende Nahrung und schützendes Obdach gefunden. Aber ich war ein menschliches Wesen und hatte die Bedürfnisse eines menschlichen Wesens. Ich durfte nicht verweilen, wo ich nichts fand, um sie zu befriedigen. Ich erhob mich und blickte zurück auf das Lager, das ich verließ. Ohne Hoffnung für die Zukunft hegte ich nur den einen Wunsch: dass mein Schöpfer es für gut befunden hätte, während meines Schlafes in dieser vergangenen Nacht meine Seele von mir zurückzufordern; dass dieser müde Körper, durch den Tod von allen weiteren Kämpfen mit dem Schicksal befreit, jetzt ruhig der Verwesung anheimgegeben wäre und ungestört seinen Staub mit dem Staub dieser Wildnis vermischen könnte. Aber das Leben war noch immer mein, das Leben mit seinen Erfordernissen, seiner Verantwortlichkeit und seinen Qualen. Die Bürde musste getragen werden, die Bedürfnisse befriedigt, die Leiden ertragen und der Verantwortlichkeit genüge getan werden. Ich machte mich auf den Weg.
Als ich Whitcross wieder erreicht hatte, schlug ich eine Straße ein, welche von der Sonne fortführte, die jetzt bereits hoch am Himmel stand und glühend brannte – die Wahl meiner Richtung wurde einzig durch diesen Umstand bestimmt. Lange ging ich geradeaus, und als ich endlich dachte, dass nun wohl genug geleistet sei, und ich mit gutem Gewissen der Müdigkeit nachgeben könnte, die mich beinahe überwältigte – dass ich dieses angestrengte Vorwärtsdrängen unterbrechen und mich auf einen nahen Stein setzen dürfe, um mich widerstandslos der Apathie hinzugeben, die sich meines Körpers und meiner Seele bemächtigt hatte –, da hörte ich eine Glocke erklingen, eine Kirchenglocke.
Ich wandte mich nach der Richtung, aus welcher der Schall kam, und dort, zwischen den romantischen Hügeln, deren wechselnden Anblick ich schon seit Stunden zu bewundern aufgehört hatte, sah ich einen Weiler und einenKirchturm. Das ganze Tal zu meiner Rechten war voll von Weiden, Kornfeldern und Wäldern; ein glitzernder Strom lief mäandernd durch die verschiedenen Schattierungen der Wiesen, des reifenden Korns, der düsteren Wälder und der hellen, sonnigen Fluren. Das schwere Rollen von Rädern lenkte meine Gedanken wieder auf die vor mir liegende Straße; ich sah einen hoch beladenen Wagen hügelaufwärts streben, und eine kurze Strecke dahinter erblickte ich zwei Kühe mit ihrem Treiber. Menschliches Leben und menschliche Arbeit waren mir also nahe. Ich musste weiterkämpfen, versuchen zu leben und zu arbeiten wie die Übrigen.
Gegen vier Uhr nachmittags kam ich in das Dorf. Am Ende der einzigen Straße war ein kleiner Laden mit Broten im Fenster. Ich sehnte mich nach einem Laib Brot, durch eine Stärkung wäre es mir vielleicht möglich, einen gewissen Grad von Energie wiederzuerlangen, ohne die ich unmöglich weitergehen konnte. Der Wunsch nach Kraft und Energie meldete sich, kaum, dass ich wieder unter Menschen war. Ich fühlte, dass es entehrend wäre, auf der Dorfstraße vor Hunger ohnmächtig zu werden. Besaß ich denn nichts, was ich jenen Leuten zum Tausch gegen eines der Brote anbieten konnte? Ich dachte nach. Um den Hals hatte ich ein kleines, seidenes Tuch geschlungen, auch hatte ich noch Handschuhe. Wie sollte ich wissen, was Männer oder Frauen taten, wenn sie an den äußersten Grenzen der Not angelangt waren? Ich wusste ja nicht einmal, ob die Leute irgendeinen dieser Gegenstände annehmen würden; wahrscheinlich würden sie es nicht tun – aber ich musste es versuchen.
Ich trat in den Laden. Eine Frau war darin. Als sie eine anständig gekleidete Person sah, eine Dame wie sie vermutete, trat sie mit größter Höflichkeit auf mich zu. Womit sie mir dienen könne? Ich kam fast um vor Scham, und meine Zunge konnte die wohlvorbereitete Bitte nicht hervorstammeln. Ich wagte nicht, ihr die abgenützten Handschuhe oder das zerdrückte Seidentuch anzubieten. Außerdem sahich auch ein, dass dies dumm sein würde. Ich bat sie nur um die Erlaubnis, mich einen Augenblick setzen zu dürfen, da ich sehr ermüdet sei. Getäuscht in ihrer Erwartung auf einen Kunden, gewährte sie meine Bitte fast widerstrebend. Sie zeigte auf
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