Jane Reloaded - Roman
nachgebildet gewesen, um sie in Museen auszustellen oder für Bücher zu fotografieren. Als Fünfzehnjährige hatte sie ihre Oma, Jane III, nach Afrika begleitet und stundenlang Sand durchgesiebt, dabei sogar zwei Homo erectus- Backenzähne gefunden, für eine Paläoanthropologin kostbar wie Edelsteine. Als Studentin war sie seinen computeranimierten Artgenossen in Filmen und virtuellen Welten begegnet. Unzählige Male hatte sie diesen Vorfahr auch in ihrer Fantasie befragt und sich ausgemalt, wie er wohl ausgesehen und gesprochen haben mochte. Aber alles ist immer nur ein mentales Labor geblieben. Unwirklich und unbefriedigend, ganz egal, wie viele prähistorische Gensequenzierungen durchgeführt wurden und wie genau man die Geschwindigkeit von Mutationen berechnet und sein Genom in den Rechnern simuliert und synthetisiert hatte. Hier und jetzt ist das Labor real und er ist tatsächlich lebendig, leibhaftig, nachgeboren, neu: Homo erectus reloaded.
Tanja Jane blinzelt, ihre Augen füllen sich mit Tränen, so überwältigt ist sie. So verdammt klein fühlt sie sich, wie jemand, der zum ersten Mal das Meer sieht, und doch ist sie auch froh. Das uneingeschränkte Vertrauen ihres Gegenübers, seine arglose Berührung wühlen sie im Innersten auf. In diesem Händedruck liegt nicht nur die ganze Vergangenheit, sie spürt auch etwas, das über sie hinausweist, wie ein Versprechen auf die Zukunft.
Am liebsten würde sie ihre Gefühle in die Welt schreien, vor Freude hüpfen. Aber sie ist wie erstarrt, der Hals wie zugeschnürt. Sie hat keine Worte für etwas, das größer zu sein scheint als sie und so neu und unbekannt. Sie fürchtet, jedes Wort und eine falsche Bewegung könnten diesen stillen, kostbaren und irgendwie auch ewigen Moment zerstören, den sie festhalten will. Der nie enden sollte. Sie schließt die Augen.
Ihr Vater und seine Forschergruppe beobachten sie hinter einer Einwegscheibe und warten sicher schon ungeduldig darauf, dass sie ihr Gegenüber endlich anspricht. Aber was, wenn sie keinen Ton herausbekommt? Dass sie sprachlos wurde, ist ihr schon öfter bei Prüfungen passiert. Dann hat sie immer ihren bewährten Trick angewendet und einige der stabilsten Begriffe und Wortpaare memoriert, die zum Urbestand aller Sprachen gehören. Das hat sie beruhigt und ihr geholfen, am Ende doch die richtigen Worte zu finden.
Ohne die Lippen zu bewegen und immer noch mit geschlossenen Augen, wiederholt sie auch jetzt dreimal hintereinander ihre im Studium auswendig gelernte Konzentrationsliste: Ich / mich – zwei / paar – du / dich – wer / was – nein / nicht – Zunge / Sprache – Name – Auge – Ohr – Herz – Zahn – Fingernagel / Fußnagel / Kralle – Hand – Träne – Wasser – Salz – Sonne – Nacht – Blut – Horn – voll – tot.
Wie wenig man doch braucht, um zu leben und zu überleben, denkt sie dabei. In dieser Aufzählung ist alles enthalten, das wir – er wie ich und letztlich alle Lebewesen auf diesem Globus – zum Leben benötigen. Nichts unterscheidet uns, wir sind gleich. Von Anfang an.
Sie spürt, dass er sie versteht, ohne etwas zu sagen. Ihr ist, als würde er starke Wellen aussenden, die durch ihre Lider dringen und in ihrem Kopf die Dinge durcheinanderbringen, aber auch ganz neue Gedanken und unbekannte Gefühle aufsteigen lassen.
Sie öffnet die Augen. Sie will und muss die Kontrolle behalten. Sie haben schließlich geübt, wie sie ihn ansprechen soll. Nimm dich zusammen, befiehlt sie sich und mustert ihn zum ersten Mal genauer, während einige Tränen über ihre Wangen rinnen.
Nackt ist er und stärker behaart als ein männliches Exemplar ihrer eigenen Spezies. Er scheint sich seiner Blöße nicht zu schämen, bedeckt sein Geschlecht nicht mit den Händen. Sie trägt Sandalen und über einer weiten Hose und einem engen Shirt noch einen hellen, dünnen Kittel.
Wie sieht er mich?, fragt sie sich. Wir sind beide Angehörige derselben Gattung Homo. Er ist nicht mehr oder weniger Mensch und nicht mehr oder weniger Tier als ich. Große Menschenaffen, Hominiden, sind wir beide und ebenso Primaten, Herrentiere.
Mit dem Handrücken wischt sich Tanja Jane hastig die Tränen ab. Sie sollte nicht über ihn gestellt sein, nicht so auf ihn hinunterschauen. Diese Situation – sie auf dem Stuhl, er auf der Bodenmatte, sie angezogen, er unbekleidet, regelrecht vor ihr bloßgestellt – empfindet sie plötzlich als zutiefst unwürdig.
Gestern noch, am Tag nach ihrer Ankunft,
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