Januarfluss
diese Leute vorher gelebt haben, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wenn sie das hier als Verbesserung betrachten. Ihr neues Leben ist nicht besonders glanzvoll, um es freundlich auszudrücken. Und dabei haben es die, die in den Städten leben, wahrscheinlich noch besser als jene, die auf die Fazendas gebracht wurden, wo sie die Arbeit verrichten, die bisher von den Sklaven gemacht wurde. Einige fazendeiros, Plantagenbesitzer, haben nämlich errechnet, dass es sie günstiger kommt, freien Menschen wenig Lohn zu zahlen, dafür aber auch keine Verantwortung für sie zu übernehmen, als Sklaven zu halten, die man verköstigen, kleiden, beherbergen, verarzten und im Alter versorgen muss. Die Europäer sind nun die neuen Sklaven, denn ich bezweifle, dass sie für ihre Plackerei gut bezahlt werden.
Dass so viele Menschen aus anderen Ländern in unser schönes Brasilien kommen, mit nichts im Gepäck als der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, haben wir der österreichischen Kaiserinmutter zu verdanken. Dona Leopoldina war es, die einst die Idee hatte, dünn besiedelte Grenzgebiete im Süden mit Einwanderern zu bevölkern. Diese sollten das Land roden und bearbeiten und die Grenzen verteidigen. Um sie anzulocken, versprach sie ihnen alles Mögliche, vor allem aber: eigenes Land.
Sie kamen in Massen. Die Ersten, die 1823 eintrafen, wurden überschwänglich begrüÃt, und soviel ich weiÃ, erging esihnen nicht schlecht. Doch die Kunde von dem Schlaraffenland sprach sich so schnell herum, dass viel mehr Menschen kamen, als man brauchen konnte, sodass nach und nach die Vergünstigungen für die neuen Bürger weniger wurden. Heute bekommt ein Einwanderer keinen Fitzel Land mehr geschenkt, so abgelegen es auch liegen mag. Dennoch ist der Strom an Leuten in ärmlicher Bauernkleidung und mithoffnungsfrohem Funkeln in den Augen nicht abgerissen.
Dieses Funkeln lässt schnell nach, bis es irgendwann ganz abgelöst wird vom stumpfen Blick der Resignation. Ich finde, ich bin hier in bester Gesellschaft, denn meine Situation unterscheidet sich von der der Einwanderer nur geringfügig. Auch ich bin unter Mühen nach Rio gekommen, um hier mein Glück zu machen, und auch ich habe lernen müssen, dass es nicht so einfach ist, wie ich mir das vorgestellt habe. Rio de Janeiro hat nicht darauf gewartet, von mir erobert zu werden. Es ist schmerzlich, sich das einzugestehen.
Auch rein äuÃerlich passe ich gut zu den Menschen hier im Viertel. Meine Haut im Gesicht und an den Armen ist gebräunt, meine Frisur besteht aus einem schlichten geflochtenen Zopf, aus dem sich im Laufe des Tages die Strähnen lösen. Da ich es mir nicht leisten kann, meine Kleider täglich zu wechseln, bürste ich schon seit Tagen das gelbe Kleid aus, wodurch es den Kleidern der Einwandererfrauen immer ähnlicher wird.
Dennoch merken es die Leute, wenn man anders ist als sie. Ich verstehe nicht, woran. Meine Zimmerwirtin nannte mich gleich » Sinhazinha « , als ich am ersten Nachmittag, nach meinem Nickerchen, zu ihr ging, um mir noch einmal alle Details erklären zu lassen. Ein süffisantes Lächeln umspielte dabei ihre Lippen, und ich war drauf und dran, ihr Haus wieder zu verlassen. Es kam mir so vor, als hätte sie über mich in der Zeitung gelesen, dabei ist das undenkbar. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, kann sie nämlich gar nicht lesen und schreiben.
Bei dieser Begegnung wusste ich das noch nicht, aber sie zerstreute gleich meine Bedenken, indem sie sagte: » Hier hören wir nichts, wir sehen nichts, und wir sagen nichts. «
Wunderbar, dachte ich, und das alles im Preis von 5Mil-Réis inbegriffen. Das Zimmer kostet mich zwar etwas weniger als das vorige, dafür ist die Kammer allerdings noch kleiner und stickiger, obwohl sie im Erdgeschoss liegt. Sie geht auÃerdem zur StraÃe hinaus, was bedeutet, dass ich praktisch rund um die Uhr mit Lärm beschallt werde. Tagsüber stören mich die Horden von Kindern, die verwahrlost und ungebändigt drauÃen umhertoben, nachts sind es Betrunkene, die lauthals unflätige Dinge lallen, oder liebeskranke Kater mit ihrem schrecklichen Geschrei. Auch ist die Bauweise der Häuser so instabil, dass man durch die dünnen Wände alles von den Nachbarn hört. Und ich meine alles. Manchmal muss ich mir die Ohren zuhalten, weil ich es nicht ertrage, den beiden Frischverheirateten aus dem Haus
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