Janusliebe
versuchte ihm ein Lächeln zu schenken, das ihre wahren Gedanken ver-
barg.
«Oh, ja! Besonders die großen Portionen. Ich esse nämlich wahnsinnig gerne,
sei also gewarnt.»
In diesem Augenblick hätte Lawrence sie am liebsten in die Arme gerissen
und geküsst. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten saß er mit einer Frau zusammen,
die die Dinge nahm, wie sie kamen, sich nicht zierte oder dauernd irgendeine
schwachsinnige Diät machte, die ihr am Tag nur eine Mahlzeit, bestehend aus
einem Salatblatt und einem halben Knäckebrot, erlaubte. Endlich hatte er jeman-
den gefunden, der alles erfreut annahm, was sich ihm bot, ohne dabei plump oder
gar gierig zu wirken.
Oh, wie er diese Partys hasste, auf denen Büfetts aufgebaut wurden, die sich
unter der Last der Speisen bogen und von denen die Gäste mit spitzen Fingern
winzige Häppchen herunternaschten. Und dabei das Getue: «Ich würde ja gerne,
aber meine Linie», und dabei strichen sie sich mit besorgter Miene über die Hüft-
knochen, die sich deutlich unter den edlen Abendroben abzeichneten.
Welcher Mann mochte das? Da konnte er doch gleich eines von diesen Plas-
tikskeletten umarmen, die in den Schulen als Ansichtsmaterial für den Biologie-
unterricht herumstanden. Das Einzige, das diese Klappergestelldamen mit ihren
dauernden Hungerkuren erreichten, war, dass die Produktion von Gummisexpup-
pen angekurbelt wurde.
Zum Repräsentieren die klapprige Knochenlady, zum Bumsen die dralle Gum-
mischlampe!
«Sekt!», orderte Lawrence bei dem wartenden Kellner. «Bringen Sie uns Sekt.»
Und an Carry gewandt, die ihn erstaunt betrachtete: «Mir ist nach Feiern zumute.
Unser Treffen heute ist für mich ein Festtag.»
Carry senkte hastig den Kopf. Wer hatte gesagt, Lawrence M. Carlson sei kalt
wie Fisch und trocken wie die Wüste? «Ein Mann mit Ambossgemüt», so hatte
Daphne ihn bezeichnet. Hatte sie gelogen oder gab es noch einen anderen Law-
rence M. Carlson? Der, der hier mit ihr am Tisch saß, hatte jedenfalls nichts mit
dem Mann zu tun, der Carrys Bitte um ein Interview rüde abgewiesen hatte.
Jetzt war eigentlich die richtige Zeit, ihm ihre wahre Identität zu offenbaren,
den Grund für ihre kleine Komödie, aber als Carry in Lawrence’ strahlende Augen
sah, blieben ihr die Worte in Halse stecken.
«Ich habe mich lange nicht mehr so wohl gefühlt», vertraute er ihr mit einem
Augenzwinkern an. «Fast kann ich jetzt meinen Bruder verstehen, der ständig zu
solchen übermütigen Handlungen neigt.»
Carry zuckte nervös zusammen. Die Erwähnung von Lawrence’ jüngerem Bru-
der brachte ihr Daphne und damit die Aufgabe in Erinnerung, die sie überhaupt in
Lawrence’ Büro geführt hatte.
«Du hast Geschwister?», murmelte Carry, eigentlich nur, um Zeit zu gewin-
nen, obwohl ihr ja längst bekannt war, dass Lawrence einen Bruder besaß.
Er nickte. Langsam zog er die Designer-Sonnenbrille aus seinem Haar und leg-
te sie an den Rand des Tisches.
«Ja, einen Bruder. Vincent. Er ist dreizehn Jahre jünger als ich.»
Auch das war absolut keine Neuigkeit für Carry, aber sie fand nicht den Mut,
ihn zu unterbrechen und die Wahrheit zu sagen. So lauschte sie schweigend mit
dem unguten Gefühl im Herzen, das ihr entgegengebrachte Vertrauen schamlos
auszunutzen.
«Weißt du, Vincent ist ganz anders als ich», plauderte Lawrence ahnungslos
aus. Sein Blick ruhte auf Carry, die sich immer unwohler fühlte. «Heute denke ich
oft, dass es am frühen Tod unserer Eltern lag, dass er sich so gänzlich anders ent-
wickelt hat. Ich musste ja mit allem alleine fertig werden und habe dabei wahr-
scheinlich seine Erziehung zu sehr vernachlässigt.»
Er schwieg einen Moment, in Erinnerungen versunken.
«Vincent war acht Jahre alt, als unsere Eltern starben, ich einundzwanzig»,
fuhr er nach einer Weile fort. Seine Stimme hatte eine dunkle Färbung angenom-
men, die verriet, dass die Vergangenheit sein Seelenleben immer noch aufwühlte.
«Ich hatte alle Hände voll zu tun, die Firma meines Vaters zu retten und nebenher
mein gerade erst begonnenes Studium fortzuführen. Es blieb viel zu wenig Zeit für
Vincent. Mit zwölf habe ich ihn deswegen in ein Internat geschickt und mit zwan-
zig in die Firma aufgenommen. Aber er weiß das Erbe gar nicht zu schätzen.»
Lawrence seufzte und fuhr sich mit einer müden Bewegung über die Augen.
«Er flirtet lieber, feiert wilde Partys und treibt sich nächtelang in irgendwel-
chen Diskotheken herum, anstatt
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