Janusliebe
die Schuhe von den Füßen, wirbelte herum und rannte los.
Die Lichter und das Heulen der Sirenen näherten sich rasch. Carry rannte um
ihr Leben. Sie spürte nicht die Kälte des Straßenpflasters, noch die Unebenheiten
des Fußweges. Zum ersten Mal war sie froh über die manische Reinlichkeit der
Denver Bevölkerung. Es lagen weder Kronkorken noch Scherben oder anderer Un-
rat herum. Nur kleine Pfützen hatten sich in den Mulden und zwischen den Stei-
nen gebildet. Aber die störten Carrys Lauf nicht. Erst viel später, als sie in ihrem
Apartment ankam, merkte sie, dass ihre Füße eiskalt waren und ihr das Regenwas-
ser bis hinauf zu den Oberschenkeln gespritzt war.
Links in der Häuserzeile stand eine Tür offen. Carry raste darauf zu, hechtete in
die Finsternis eines Treppenhauses und zog die Tür eilig hinter sich zu. Mit klop-
fendem Herzen blieb sie dahinter stehen und lauschte nach draußen.
Die Einsatzfahrzeuge fuhren vorbei, das Jammern der Sirenen verlor sich ir-
gendwo in den tiefen Straßenschluchten der Stadt. Dann war es still.
Carry wartete. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie die aufgeregten Schläge in
ihrer Kehle spürte. Sonst tat sich nichts da draußen. Es war absolut still.
Zu still, für Carrys Geschmack.
Die Zeit schleppte sich träge dahin, während draußen weiterhin scheinbar
nichts geschah. Dann – irgendwann – hallten Schritte heran, eine Frau und ein
Mann redeten aufgeregt miteinander. Sie blieben direkt vor der Tür stehen.
«... nich’ schon wieder.»
«War ja nur’n Vorschlag.»
«Wir brauchen das nich’.»
«Also gut, ich hab’s ja kapiert.»
Die beiden gingen weiter, ihre Stimmen verloren sich in der Ferne, danach trat
wieder Stille ein, die nur ab und zu von einem vorbeifahrenden Auto unterbro-
chen wurde.
Carry sah auf das beleuchtete Ziffernblatt ihrer Uhr. Wie lange stand sie schon
hier? Konnte sie es wagen, das Haus zu verlassen, oder sollte sie besser noch war-
ten?
Kälte begann an ihren nassen Beinen hochzukriechen. Carry sah erneut auf
die Uhr, es waren noch keine drei Minuten vergangen, seit sie das letzte Mal nach-
gesehen hatte. Ihr kam es vor, als wären es drei Stunden gewesen.
Irgendwann musste sie hier raus. Oder sie entschloss sich, die ganze Nacht hier
zu verbringen.
Nein! Sie holte tief Luft, griff an den Knauf und zog behutsam die Tür auf.
Fast erwartete sie, dass ein Schlag auf sie niedersauste, sobald sie den Kopf hin-
ausstreckte, aber nichts dergleichen geschah. Sie befand sich ganz alleine auf der
Straße. Gut! Carry holte noch einmal tief Luft, dann lief sie los.
Diesmal folgte ihr niemand.
———————
Sie zitterte immer noch. Wütend warf sie Mantel und Mütze von sich, streifte
ihre Schuhe ab und ging in die Küche.
Dieses kleine Miststück hatte sie wieder ausgetrickst. Himmel, hatte das Biest
sieben Leben wie diese verdammte Nachbarskatze, die ihr immer in den Blumen-
kübel auf dem Balkon pisste?
Wütend ergriff sie den Wasserkessel, füllte ihn und stellte ihn auf den Herd.
Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, unterbrach ihre Tätig-
keit. Rasch schaltete sie die Herdplatte wieder aus und eilte ins Wohnzimmer, um
ihn zu empfangen.
Er war wütend. Sie sah es an seinen Kieferknochen, die sich deutlich unter der
Wangenhaut abzeichneten. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusam-
mengepresst, in den Augen loderte ein gefährliches Feuer.
«Darling.» Vorsichtshalber blieb sie unter der Küchentür stehen.
Er musterte sie finster. Ahnte er etwas? Wusste er ...? Hatte er gesehen ...?
Mit zwei Schritten war er bei ihr. Seine Hände umfassten ihren Hals und
drückten zu. Sie gab einen unterdrückten Laut von sich, der in gequältes Gurgeln
überging. Ohne sie loszulassen, zog er sie näher, bis sie ihr Spiegelbild im Glanz
seiner Augen sehen konnte, und küsste sie.
Sie spürte, dass ihr die Sinne zu schwinden begannen. Zum einen wollte sie
diesen Kuss genießen, sich in ihm verlieren, andererseits drängte sie ihr Lebens-
wille dazu, sich gegen ihn zu wehren. Der Druck seiner Hände auf ihrem Hals
sperrte ihr die Luftzufuhr ab, sie gierte nach Sauerstoff, ihre Lungen begannen zu
schmerzen, während sich in ihrem Kopf alles drehte.
Es war ein reiner Reflex, dass sie versuchte, seine Finger von ihrer Kehle zu lö-
sen. Aber stattdessen drückte er noch fester zu. Ihre Zunge schwoll an, hinter ihren
Augen entstand ein Druck, der drohte, die Augäpfel aus dem
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