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Jasmin - Roman

Titel: Jasmin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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und auch noch einen kleinen Jungen! Ich hatte gar nichts, keine Frau und keine Kinder, weder ein Haus noch ein Auto, ich fing erst jetzt zu leben an. Nicht einmal ein senffarbenes Jackett, wie mein verstorbener Onkel Nuri eines besessen und von dem ich immer geträumt hatte, hatte ich mir gekauft. Einmal hatte ich ein ähnliches Jackett im Schaufenster von OBG im Generali-Gebäude gesehen und danach gelechzt, doch es war sündteuer. Jetzt bereute ich, dass ich es nicht gekauft hatte.
     
    Gegen Abend erhielten wir den Befehl, uns zum Abmarsch bereit zu machen, kein Mensch sagte, wohin. Aflalos Gesicht wurde blass, er packte seine Sachen mit zusammengepressten Lippen und war vor uns allen fertig. Wir bestiegen die Fahrzeuge und fuhren im Schutz der Dunkelheit los, mein Mund war trocken und mein Kopf leer. Ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit verging, bis der Befehl kam anzuhalten und unser Nachtlager in einem verlassenen Obsthain einzurichten. »Schlaft in den Kleidern«, befahl unser Vorgesetzter. Das Gerücht machte die Runde, dass wir am Stadtrand von Gaza parkten.
    Als wir am Morgen erwachten, empfing uns ein schöner Tag mit strahlendem Himmel und selten klarer Sicht. Ein sanfter Wind säuselte durch den aufgegebenen Obsthain, der im Tageslicht eine überschäumend grüne Frische ausstrahlte. Hätte man hier doch nur verweilen können, in der Schönheit, in Licht und Wind. Doch am Mittag verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht: »Morgen ziehen wir in den Krieg.«
    Ich ging zum Verwaltungsoffizier und sagte ihm, dass ich Orientalist sei. »Wart einen Moment«, schnarrte er und ging. Der
Moment dauerte zwanzig Minuten, ich war mir sicher, dass man mich vergessen hatte. »Komm mit«, sagte er, als er zurückkam, und brachte mich zum Nachrichtenoffizier, der mich zum Einsatzoffizier brachte, der Einsatzoffizier brachte mich zum stellvertretenden Regimentskommandeur und der wiederum zum Regimentskommandeur.
    Der Regimentskommandeur führte mich an einen Sitzungstisch, gab mir ein Blatt, das die Überschrift »Kapitulationsschreiben der Stadt Gaza« trug, und bat mich, es ins Arabische zu übersetzen. Ich prüfte den Text, aber der Stil sagte mir nicht zu. »Formuliere es so, wie du es für gut hältst«, meinte er. Die Ruhe, die ihn umgab, und seine Überzeugtheit von der Eroberung der Stadt flößten mir Vertrauen ein. Doch als ich zum Parkplatz zurückkehrte, tauchten meine Befürchtungen wieder auf.
    »Wir brauchen einen einäugigen Piraten, der den Pharao vernichtet«, sagte Trabelsi.
    »Wir brauchen Mosche Dajan, die Araber haben Angst vor ihm«, sagte Aflalo.
    »Was kann Dajan jetzt tun?«, sagte ich im bedeutungsvollen Ton eines staatlichen Verantwortungsträgers.
    In der Nacht ließ mich die Angst nicht einschlafen. Ich sah in der Dunkelheit einen Menschen mit gefesselten Händen, den jemand in den Kopf schoss. Er fiel um, und das war’s. Vor einer Sekunde gab es ihn, und hopp, war er nicht mehr. Ein Bild wie aus Filmen. War es das, was mich jetzt erwartete? In jener Nacht, an der Stadtgrenze von Gaza, schwor ich mir: Wenn ich hier heil herauskomme, werde ich mein Leben ändern.
     
    Am nächsten Morgen war ich erschöpft, aber froh, aus dem Schlafsack herauszukommen, den verbrannten Kaffee zu trinken, den Trabelsi gebrüht hatte, und eine Scheibe Brot mit einem Halvawürfel aus der Kampfration zu essen. In der Zeitung stand, dass Nasser am Mittag eine wichtige Rede halten werde. Ich wandte mich an den Nachrichtenoffizier und meldete mich freiwillig zum
Übersetzen. Er setzte mich in einen Nebenraum ans Radio, mit Stift und Papier.
    Nasser hatte eine herrliche Stimme. Weich und melodiös, wenn er von Ägypten sprach, voller Vitalität, wenn er von al-Karama, der Ehre, sprach, wütend, wenn er vom Imperialismus sprach, aggressiv und niederknüppelnd, wenn er vom al-Adu, dem Feind, sprach, jubelnd, wenn er von al-Nasr, dem Sieg, sprach. Eine schmeichelnde und einpeitschende Stimme, deren Nuancen er virtuos beherrschte und mit der er seine Zuhörer hypnotisierte. Kein Zweifel, dass Sa’ut al-Arab und das ägyptische Theater ein großes Talent verloren hatten.
    »Ich bin euer Sühneopfer, ich bin Ägyptens Opfer«, brüllte er begeistert, wie damals, am 22. Oktober 1954, als er in Alexandria gesprochen hatte. Ich war noch ein Knabe gewesen, Schüler in Jerusalem, und hatte seine Rede im Haus meiner Großmutter in Kiriat Jovel, vor dem Unterricht, gehört. Ich erinnere mich an die ungeheure Aufregung,

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