Jasmin - Roman
Morgen die Jalousie des Fensters nicht hochgezogen hatte, um meine orthodoxe Nachbarin zu sehen. Jeden Morgen sah ich sie in der Küche oder auf ihrem kleinen Balkon stehen, in Hausarbeit vertieft, umringt von ihren Kleinkindern. Mit der Zeit hatte sich in mir der Aberglaube festgesetzt, dass der ganze Tag verdorben sei, wenn ich sie morgens einmal nicht sähe. Ach, Unsinn, schalt ich mich.
Aus dem Radio drang das Zeitzeichen für die Sechs-Uhr-Nachrichten, der Fahrer erhöhte die Lautstärke, und sofort herrschte absolute Stille im Autobus. Der Sprecher meldete mit tiefer, dramatischer Stimme, dass Nasser die Meerenge von Tiran geschlossen und unseren Seeweg nach Süden, zum Indischen Ozean, blockiert habe, und sagte im gleichen Atemzug, dass Israel in der Schließung der Meerenge einen Anlass zum Krieg sehe. Der Horizont trübte sich vor meinen Augen. Sicher hatten sie auch meinen Bruder Moschi eingezogen, gut, dass wenigstens unser Kabi in London war.
An der Sammelstelle rüstete man uns schnell aus, verteilte uns auf Trupps, frischte unser Wissen bezüglich Kampfbefehle und Gefangenschaft auf und führte Drillübungen und Tauglichkeitstests mit uns durch. Noch während wir in die Prozeduren des
Funkverkehrs vertieft waren, die mir zum Teil entfallen waren, scheuchten sie uns bereits zum Schießstand. Genosse, die Sache ist ernst, sagte ich mir.
Die Ergebnisse meiner Schießübung waren erbärmlich. Du bist nicht vorbereitet, zieht man so in die Schlacht? Ein Glück, dass Trabelsi meiner Mannschaft zugeordnet war. »Aber wo ist er?«, fragte ich den vorgesetzten Offizier. »Er hat einen Sohn gekriegt, er kommt dann schon«, erwiderte er. Und warum hatte ich kein Transistorgerät mitgebracht? Wozu denn? Die Nachrichten waren nur beängstigend und die Kommentare noch mehr. Gegen Abend, nachdem wir Zelte aufgebaut und uns zum Schlafen eingerichtet hatten, schickte ich eine Postkarte an meine Eltern.
In den folgenden zwei Tagen fuhren wir mit dem Training fort, und am dritten Tag traf Trabelsi ein, nachdem er seinen Sohn erfolgreich hatte beschneiden lassen. Er brachte alles mit, was gut ist: frische Brotringe, Zuckermandeln, marokkanische Küchlein, und wir umringten ihn alle.
»Ihr wisst gar nicht, was in Tel Aviv los ist. Eine Geisterstadt, die Straßen sind leer gefegt, man sagt, dass tausende Tote erwartet werden, das Rabbinat hat ein Areal im Stadtpark für ein Massengrab abgesegnet, man hat Schüler aus Mittelschulen zum Ausheben von Gruben mobilisiert. Sie haben Todesangst! Die Leute fliehen, schwarze Witze kursieren: ›Der Letzte, der Lod verlässt, soll das Licht ausmachen‹«, sagte Trabelsi.
»Eschkol ist ein Feigling. Er wird nichts unternehmen, man muss Ben Gurion zurückholen«, behauptete Aflalo.
»Lass mich mit dem in Ruhe. Wie lang sollen uns die Alten der zweiten Alija denn noch regieren?«, entgegnete Trabelsi.
»Wir sitzen hier allein fest, so ist das, wenn du in der Patsche hockst«, konstatierte Slutzki.
»Sag mal, Nuri, du arbeitest doch bei der Regierung. Eschkol, ist das vielleicht ein Führer?«, warf mir Aflalo hin.
Ich beeilte mich nicht mit der Antwort. Hin und wieder sah ich Eschkol auf der Treppe zu seinem Büro, brummelnd und summend,
ja-ba bam-bam, wie ein guter alter Großvater aus einem abgelegenen Schtetl. Mein Minister sagte, er sei »a jiddische kop«, ein kluger Jude, der die Menschen kenne. Und er hatte mich tatsächlich mit seiner Weisheit und seiner Einfühlsamkeit verblüfft, als ich mich vor zwei Jahren bei seinem Auftritt in Nazareth in seinem Gefolge befand. Aber auf den ersten, oberflächlichen Blick sah man seine Stärke nicht.
»Schau dir Nasser an«, fuhr Aflalo fort, »jung, schön und groß, stark und charismatisch, ein begnadeter Redner, und wer steht ihm gegenüber? Eschkol! Alt, ein glatzköpfiger Teddybär mit einem schwarzen Käppi wie ein Fladen auf den Kopf geklebt und einem Gürtel, der ihm bis zur Brust raufgeht, und dazu kommt, dass er nicht mal reden kann. Ein Idiot!«
Trabelsi legte ihm eine Hand auf die Schulter, wie um ihn zu beruhigen, und zog aus seiner Hemdtasche die kurz zuvor entwickelten Bilder von der Beschneidung seines Sohnes.
Der Abend brachte traurige Dunkelheit. Die Unterhaltung drehte sich um zu Hause, um die Kinder, die Frauen. Und ich sah Jardena vor mir, wie sie in den Sanddünen von Aschdod wie ein wildes Füllen rannte, und verzehrte mich umsonst nach ihr. Jardena, die honigsüße Feige, und ich die unreife Frucht.
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