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Jasmin - Roman

Titel: Jasmin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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wechselten einen Blick, und die Worte blieben ihnen im Hals stecken. Abu Schawkat hörte auf zu fotografieren.
    »Papa, sind das die Juden?«, fragte der Junge. »Papa, warum antwortest du nicht?«
    »Anscheinend«, flüsterte sein Vater.
    »Wo sind denn unsere Soldaten?!«, rief der Junge.
    »Sie schießen von überall her«, erwiderte sein Vater.
    »Warum halten dann die Juden nicht an?«
    Der Panzer wandte sich nach links, dem Eingangstor des Tempelbergs zu. Ein schwarzes Motorrad lag im Weg. Vielleicht war das eine Minenfalle, inschallah, die ihnen ins Gesicht fliegen und sie aufhalten würde, flehte Abu George im Herzen. Doch der Panzer ließ sich nicht abschrecken, rollte über das Motorrad und weiter voran.
    Jetzt sah Abu George einen hochgewachsenen, breitschultrigen Offizier, der sich von seinem Sitz im Panzerturm erhob, um die golden glänzende Kuppel vor ihm zu betrachten. »Allah, wo
bist du?«, richtete Abu George seinen Blick empor. Er betete, dass die Scharfschützen, die auf allen Dächern postiert waren, den Panzer vernichten würden. Warum trafen sie ihn nicht, weder ihn noch die Fahrzeuge, die seiner Spur hinterherfuhren, die zum heiligen Berg führte?
    »Papa, warum töten unsere Soldaten sie nicht?«, fuhr der kleine Junge fort zu fragen. »Was wird jetzt?«
    Abu George betrachtete den Jungen und dachte, dass man ihm diese Szene hätte ersparen sollen, so wie er seiner Tochter Jasmin, die damals fast im gleichen Alter war, die Flucht aus Talbieh hätte ersparen müssen. Allah sei Dank, dass Jasmin nicht sah, was seine Augen nun mit ansehen mussten. Fünf Jahre hatte er ihr zugeredet zurückzukommen, und wie gut, dass sie dort geblieben war. Denn was würde sie hier sehen, die Armee der Juden? Ihr würde schwarz vor Augen!
    »Allah möge ihnen die Gelenke brechen«, flüsterte Abu Schawkat. »Gibt es keine Macht, die sie aufhält?«
    »Papa, genug, komm, wir gehen wieder!«
    Als das dritte Fahrzeug passierte, wurde einer der Soldaten vom Feuer der königlich-jordanischen Scharfschützen getötet. »Tod, du Hund, dir und deiner ganzen Armee!«, rief der Fotograf.
    »Ja Allah, ja Allah, ta-ta-tach!«, schrie der Junge und klatschte in die Hände. Die Scharfschützensalve dauerte an, und es fielen weitere jüdische Soldaten.
    »Ja Allah, sie schlachten die Juden, ithbach, ithbach!«, brüllte Abu Schawkat. Doch die Kolonne setzte die Fahrt fort.
    Abu George ließ das Fernglas sinken. Wer waren diese Juden? Hundesöhne und Satansbraten, afarit, Teufel, Dämonen! Sie hatten kein Erbarmen, kein Hindernis hielt ihnen stand. Sein Vater hatte einmal zu ihm gesagt, sie seien wie beißende Ameisen, kein Schädlingsgift könne sie vernichten. Unselige Eselssöhne, wie wagten sie es nur, in das Allerheiligste des Islam einzudringen? Welche Unverschämtheit sie besaßen, die ganze muslimische
Welt würde sich doch gegen sie erheben! Söhne des Unrechts. Es gibt keinen Gott in ihren Herzen. So sind sie 48 über unsere Dörfer ausgeschwärmt, so haben sie uns aus Talbieh vertrieben und die Katastrophe, al-Nakbe, über uns gebracht, und so haben sie sich mit den Briten und Franzosen verbündet und Ägypten 56 angegriffen. Unser ganzes Unglück kommt von ihnen. Und wie es ihnen gelingt, den Krieg in unsere Häuser, auf unser Gebiet zu tragen, wie sie losstürmen, durchbrechen und erobern! Hyänensöhne, nennen ihre Armee »Verteidigungsarmee« und greifen an, brechen zu Kriegen auf und nennen sie »Präventionskriege«. Mochte ihr Haus zerstört werden! Was waren sie denn? Flüchtlinge, die kein Mensch wollte, eine gedemütigte, verängstigte Minderheit, ohne Ehre und ohne Scham, und plötzlich herrschten und erniedrigten sie. Woher hatten sie diese Kraft? Wir sind doch die Nachkommen der Wüstensöhne, kühner Kämpfer und mächtiger Eroberer, Begründer des Imperiums des Mittelalters, Schöpfer einer neuen Kultur, wie konnte sich das Schicksal so wenden?
    »Abu George, was geschieht hier? Wo ist Allah, wo ist die Legion, wo sind Hussein und Nasser, die arabischen Staaten und Russland?«, klagte Abu Schawkat. »O Herr der Welt, was soll werden? War eine Nakbe nicht genug für uns? Der Boden ging verloren und die Ehre!«
    Das Leitfahrzeug blieb im Zentrum des Platzes stehen. Die Stahlhelme der Soldaten sahen wie die kleinen Kuppeln der heiligen Stätte aus. Das Feuer brach ab. Abu George begriff nicht, weshalb die jordanischen Legionäre zu schießen aufhörten, Esel, Dummköpfe, macht weiter, der gewinnt, der den

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