J.D.SALINGER Neun Erzählungen
, bin ich ihm doch fast auf die Hand getreten. Er hat genau unterm Tisch gesessen.«
»Also, ich würde mich darüber nicht aufregen.«
»Ich meine, bei ihm muss man jedes Wort auf die Goldwaage legen«, sagte Sandra. »Das macht einen wahnsinnig.«
»Ich kann das immer noch nicht trinken«, sagte Mrs Snell. » … Schrecklich ist das. Wenn man jedes Wort auf die Goldwaage legen muss und so.«
»Es macht einen wahnsinnig! Ganz ehrlich. Die Hälfte der Zeit bin ich halb wahnsinnig .« S andra wischte sich ein p aar eingebildete Krümel vom Schoß und schnaubte. »Ein Vierjähriger!«
»Er ist ja schon ein hübscher Junge«, sagte Mrs Snell. »Die großen braunen Augen und so.«
Erneut schnaubte Sandra. »Der kriegt mal eine Nase genau wie sein Vater .«
S ie hob ihre Tasse und trank ohne Schwierigkeiten. » Ich weiß nicht, wozu die den ganzen Oktober hierbleiben wollen«, nörgelte sie und senkte die Tasse. »Ich meine, keiner von denen geht doch auch nur in die Nähe vom Wasser. Sie geht nicht rein, er geht nicht rein, der Junge geht nicht rein, deiner geht mehr rein. Die fahren nicht mal mehr mit diesem verrückten Boot raus. Ich weiß auch nicht, warum sie dafür gutes Geld rausgeschmissen haben.«
»Ich weiß nicht, wie du den trinken kannst. Ich kann’s jedenfalls nicht.«
Sandra starrte voller Groll auf die Wand gegenüber. »Ich bin ja nur froh, wenn ich wieder in die Stadt komm. Ganz ehrlich. Ich hasse dieses verrückte Haus .« S ie warf Mrs Snell einen feindseligen Blick zu. »Für dich mag das ja angehn, du lebst hier das ganze Jahr. Du hast hier deine Freunde und Bekannten und so. Dir ist das egal.«
»Ich trink das jetzt, und wenn’s mich umbringt«, sagte Mrs Snell mit einem Blick auf die Uhr überm Elektroherd.
»Was tätest du denn an meiner Stelle?«, fragte Sandra unvermittelt. »Ich mein, was würdest du denn tun? Die Wahrheit bitte.«
Das war eine jener Fragen, in die Mrs Snell wie in einen Hermelinmantel schlüpfte. Sogleich war die Teetasse vergessen. »Also, als Erstes «, sagte sie, »würde ich mich darüber nicht auf regen. Was ich machen würde, ich würde mich nach einer anderen – «
»Ich reg mich doch gar nicht auf«, fiel Sandra ihr ins Wort.
»Das weiß ich, aber was ich machen würde, ich würde mir einfach eine – «
Die Schwingtür zum Esszimmer ging auf, und in die Küche kam Boo Boo Tannenbaum, die Dame des Hauses. Sie war eine kleine, beinahe hüftlose junge Frau von fünfundzwanzig Jahren, die ihre frisurlosen, farblosen, spröden Haare hinter ihre sehr großen Ohren geschoben hatte. Sie trug eine knielange Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover, Socken und Halbschuhe. Abgesehen von ihrem Namen, der ein Witz war, abgesehen auch von ihrer grundsätzlichen Unhübschheit war sie – was dauerhaft denkwürdige, übermäßig scharfsichtige, kleinräumige Gesichter betrifft – eine umwerfende und vollkommene junge Frau. Sie ging stracks zum Kühlschrank und öffnete ihn. Während sie, die Beine auseinander und die Hände auf den Knien, hineinspähte, pfiff sie unmelodisch durch die Zähne und hielt dabei mit einer kleinen ungenierten Pendelbewegung ihres Hinterns den Takt. Sandra und Mrs Snell verstummten. Mrs Snell drückte ohne Eile ihre Zigarette aus.
»Sandra … «
»Ja, Ma’am ?«
S andra blickte wachsam an Mrs Snells Hut vorbei.
»Sind denn keine Pickles mehr da? Ich möchte ihm gern ein paar Pickles bringen.«
»Er hat sie gegessen«, berichtete Sandra schlau. »Er hat sie gestern Abend gegessen, bevor er ins Bett gegangen ist. Es waren bloß noch zwei da.«
»Ach. Na, dann kaufe ich welche, wenn ich zum Bahnhof gehe. Ich dachte, vielleicht könnte ich ihn ja aus d em Boot locken .«
B oo Boo schloss die Kühlschranktür und trat ans Fenster zum Seeufer, um hinauszuschauen. »Brauchen wir noch etwas anderes?«, fragte sie vom Fenster her.
»Bloß Brot.«
»Ich habe Ihnen Ihren Scheck auf den Flurtisch gelegt, Mrs Snell. Vielen Dank.«
»Okay«, sagte Mrs Snell. »Wie ich höre, läuft Lionel gern weg .«
S ie lachte kurz auf.
»Jedenfalls sieht’s so aus«, sagte Boo Boo und schob die Hände in die Gesäßtaschen.
»Wenigstens läuft er nicht sehr weit weg«, sagte Mrs Snell und lachte erneut kurz auf.
Am Fenster veränderte Boo Boo ganz leicht die Haltung, sodass sie nicht mehr direkt mit dem Rücken zu den beiden Frauen am Tisch stand. »Nein«, sagte sie und schob sich ein paar Haare hinter die Ohren. Rein zur Information fügte
Weitere Kostenlose Bücher